Lydia Dorfer hat ihrem Vater am Totenbett versprochen, auf die demente Mutter Gundi zu achten. Rasch stößt sie dabei an ihre Grenzen. Eine Rundumbetreuung ist neben ihrem Beruf als Krankenschwester unmöglich. Als Gundi aufgrund einer Verletzung ins Hospital muss, entscheidet Lydia schweren Herzens, ihre Mutter in ein Altenheim zu geben. Anfänglich fügt sich Gundi gut ein, sie profitiert von der liebevollen Pflege und trifft zudem auf eine alte Freundin. Doch mit der Pandemie werden die Karten neu gemischt und es beginnen emotionale Achterbahnfahrten.
Bridget Sabeth gibt in diesem Buch berührende Einblicke hinter die Kulissen des Krankenhaus- und Altenheimalltages und schildert hautnah, mit welchen Belastungen Angehörige und Familien in dieser herausfordernden Zeit zu kämpfen hatten.
Erhältlich als Taschenbuch - ISBN: 9783756549870
Oder als ebook - ISBN: 978-3-7549-8435-2
... auf diversen Plattformen, wie Weltbild, Amazon, Thalia, ...
Leseprobe:
Weshalb mussten wir uns verlieren?
Leben in der Pandemie – Realitätsroman
Bridget Sabeth
»Liebes … bitte versprich mir, dass du dein Bestes für … für Mutti gibst«, kam es mit dünner Stimme.
Mit schwimmenden Augen betrachtete ich meinen Vater in seiner Liegestätte. So stolz war er einst gewesen, so voller Energie! Nun lag seine Hand schwach und kraftlos in der meinigen. Sein Gesicht war fahl. Er hatte Schmerzen, dennoch war er im Kopf vollkommen klar. Wusste so wie ich, dass bald durch seine Lebensuhr die letzten Körner herabgerieselt waren.
»Ich …«
Eine flüchtige Bewegung brachte mich zum Verstummen. Er wollte noch etwas sagen. Ich gab ihm die Zeit, damit nichts unausgesprochen zwischen uns blieb.
»Aber … aber versprich mir ebenso, dass du dich dabei nicht verlierst.«
»Verlieren?«, wiederholte ich irritiert.
»Jeder Mensch hat seine Grenzen. Du …« Er hustete.
Ich drückte ihm das Kissen weiter unter dem Rücken, damit er aufrechter im Bett sitzen und leichter atmen konnte.
»Lydia«, setzte er neu an. »Du … bist ein liebevoller Mensch. Hier zu sein, in meinen eigenen Wänden, das verdanke ich dir. Einen schöneren Abschied kannst du mir nicht schenken.«
Ich spürte, wie meine Unterlippe zitterte. Natürlich wollte ich sagen, wo sollte er sonst sein. Als Krankenschwester wusste ich, wie Pflege funktionierte. Nur hatte mich niemand darauf vorbereitet, wie emotional die Begleitung eines Sterbenden war, wenn es den eigenen Vater betraf! Die eigene Familie! Es keine Sekunde gab, in der man abschalten konnte. Zwar ähnelte es der Sorge, wie ich sie auch meinen Kindern entgegengebracht hatte, aber deren Schritte wurden sicherer, sie wuchsen heran, während hier das Leben vor meinen Augen verwelkte.
Vatis Stöhnen ging mir durch Mark und Bein. Ich schluckte den dicken Kloß in meiner Kehle hinunter. »Du hast Schmerzen. Es wird Zeit für deine nächste Medikamentendosis.«
Ich griff zu der Ampulle, zog daraus mit der Nadel und der Spritze die Flüssigkeit auf, die ihm Erleichterung schenken würde. Eine Therapie, die mit unserem Hausarzt abgesprochen war.
Es wunderte mich, dass meine Hände dabei nicht zitterten, obwohl mein Innerstes bebte. So oft hatte ich schon Injektionen verabreicht, ohne dass ich mir groß darüber Gedanken gemacht hatte. Routiniert die passende Stelle gesucht, nach dem Einstich aspiriert, um zu überprüfen, dass kein Blut hineinfloss und ich nicht aus Versehen in einem Gefäß gelandet war. Ich wählte seinen Muskel am Oberschenkel, dessen Umfang ein Bruchteil davon war als in seiner aktiven Zeit.
»Den Einstich spüre ich gar nicht. Danke.« Vati lächelte mir aufmunternd zu.
Wie seltsam, ich sollte ihm Trost spenden! Nicht umgekehrt. Aber im Herzen und im Leben würde ich stets sein Kind bleiben.
Ich drückte sanft seine Hand. »Bald wird es besser.«
»Ich weiß.« Mein Vater schloss die Augen. »Nun lass mich bitte allein und schau, dass Mutti keinen Blödsinn macht.«
»Natürlich.« Ich drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und schlich mich auf leisen Sohlen hinaus.
Ein letztes Mal sah ich mich um, prägte mir die zu hohlen Wangen und die spitze Nase ein, bemerkte die gräuliche Farbe seines Gesichts, die schweren Atemzüge. »Ich liebe dich«, flüsterte ich heiser, ohne zu wissen, ob er mich tatsächlich hörte. Dann zog ich die Tür zu und ging.
Mit tränennassen Augen setzte ich mich auf der Sonnenliege auf, spürte den Nachhall meiner Erinnerung. Vati war tot – verstorben vor drei Monaten, am fünfzehnten Juni. Seitdem war nichts mehr wie zuvor. Seine mahnenden Worte am Sterbebett hatten einen tieferen Hintergrund. Während es sein Körper war, der geschwächelt hatte, war es bei Mutter genau andersrum: Ihr Geist verblasste. Seit dem Tod ihres Mannes verschärfte sich die Symptomatik beträchtlich. Mit beängstigender Geschwindigkeit schlitterte sie tiefer in die Demenz, fand sich immer schwerer im Alltag zurecht.
Ich wischte mir die Nässe aus den Augenwinkeln. Besänftigend umfingen mich die wärmenden Strahlen. Der blitzblaue Himmel schenkte mir subtilen Trost aus dem Universum und konnte dennoch kaum meine Lasten überdecken. Nicht nur meine Trauer, sondern auch die Nachtdienste und der fehlende Schlaf in den letzten Wochen steckten mir deutlich in den Gliedern. Immer öfter fragte ich mich in meinen schwachen Stunden, wie lange ich die Belastung, auf Mutter zu achten, noch durchzuhalten vermochte. Mein gewohnter Tagesablauf hatte sich immens verändert. Ich machte vermehrt Nachtschichten, damit ich am Tag zuhause bei Mutti war, wenn mein Mann Rudi und unsere Kinder Corinna und Manuel außer Haus waren. Wenigstens hatte ich jetzt drei Tage am Stück frei. Ich hoffte darauf, dass ich wieder Energie finden konnte.
Dabei realisierte ich stetig mehr, wie viel mein Vater uns allen abgenommen hatte. Er war es gewesen, der darauf achtete, dass meine Mutter Gundi genug aß, sich ordentlich wusch und kleidete, zu den richtigen Zeiten ins Bett ging …
Es gab gute und schlechte Tage, die sich mehrten. So befanden wir uns mitten in der Trauer, während Gundi manches Mal stundenlang nach Vati suchte und schimpfte, weil sie ihren Mann nicht fand.
»Toni, Sakrament, wo bist du denn schon wieder?«, erklang es prompt.
Unser Hund Sunny spitzte neben mir die Ohren. Sie war eine blonde Mischlingsdame. Mein: Mutti, Vati ist tot, schluckte ich hinunter, denn in so einer Phase war alles dagegen reden verlorene Liebesmüh.
Ich sah zu, wie sie zur Werkstatt hoselte – das waren ihre typischen kleinen Schritte, trippelnd, die dazu leicht schwankend wirkten. Ihre braune Stoffhose schlackerte an den dünnen Beinen, dazu trug sie eine weite weißgrau gemusterte Bluse und darüber ein ärmelloses gestricktes Jäckchen. Energisch rüttelte sie an der Klinke der Holztür. Sie war abgesperrt. Ein missfälliger Ton entfuhr aus ihrer Kehle und sie machte mit einem Kopfschütteln kehrt. Dieses Abdrehen veränderte ihre Schrittart. Sie wirkte noch unsicherer, als sie Richtung Haus steuerte. Ehe sie dieses betrat, wendete sie und hielt erneut auf den Schuppen zu, worin die Werkstatt lag.
»Toni?«, rief sie hoffnungsvoll und leicht verärgert zugleich. Ihr Tun wiederholte sich: Klinke niederdrücken und an der Tür rütteln.
Inzwischen wusste ich, dass sie von allein schwer aus dieser Abfolge herauskam, oft über Stunden wie eine Getriebene darin gefangen blieb.
Ich unterdrückte ein Ächzen, erhob mich, um auf sie zuzugehen. Dabei wurde ich von Sunny begleitet, die mit dem Schwanz wedelte und sich über jede noch so kleine Bewegung freute, während sie sonst gerne, wie ein Schatten – ganz im Widerspruch zu ihrem Namen Sonnenschein – bei mir blieb.
»Mutti, warte!«, rief ich ihr zu, als Gundi zum dritten Mal auf die Werkstatttür zulief.
Sie stutzte mit einem Stirnrunzeln und war sichtlich grantig, weil ich sie unterbrochen hatte.
»Sag, bist du herausgegangen, um Petersilie für die Suppe zu holen und Salat abzuschneiden?«
Ein irritiertes Flackern trat in ihre Augen.
Aus Erfahrung wusste ich, dass es am besten war, sie abzulenken. Und hier draußen im Garten zu werkeln, das zählte zu ihren Lieblingsbeschäftigungen. Noch immer, wenn sie klarere Phasen hatte und dorthin wollte ich sie führen. Einst war sie eine begnadete Hausfrau gewesen, eine noch herzlichere Mutter. Es gab stets ein warmes Essen für mich, liebevoll gestrichene Jausenbrote, dazu süßen Saft, obwohl Vati ständig schimpfte, dass wir davon schlechte Zähne bekämen. Sie ignorierte es und meinte: Mein Weibi braucht jedes Gramm auf den Rippen.
Huch, schon wieder drückte der verdammte Kloß in meiner Kehle. Dabei war Mutti noch da! Und doch wurde sie immer mehr zum Schatten ihrer selbst. Ihr Verfall war lange Zeit schleichend vorangegangen. Nun war sie wie zu einem Kind geworden, auf das man aufpassen musste, damit es keinen Blödsinn anstellte.
Meine Mutter schielte auf ihre Hände und es dauerte eine Weile, bis sie realisierte, dass sie kein Messer zum Ernten des Gemüses bei sich hatte.
»Dein Messer liegt auf der Fensterbank – du hast es wohl vorhin dort abgelegt.«
Während sie über ihre kurzen grauen Haare tastete, die glatt am Kopf anlagen, entfuhr ihr ein seltsam schrilles Kichern. Auch das kannte ich mittlerweile nur zu gut, damit überspielte sie ihre Unsicherheit. Ich hakte mich bei Mutti unter und sie folgte meinen Schritten. Beim Gartenbeet kam sie gleich in ein geschäftiges Tun, rupfte Unkraut aus.
Ich reichte ihr das Messer. »Schau, der Salatkopf sieht aber schön knackig aus.« Ich deutete auf den größten, den sie mit geübter Hand abschnitt.
Sie schwankte leicht, als sie sich zu rasch aufrichtete. Kurz blieb mir das Herz stehen, denn mit dem scharfen Schneidwerkzeug in der Hand sah ich reichlich Gefahrenpotential. Aber wo befand sich die Grenze zwischen Anleiten und Bevormunden?
»Schon gut«, wehrte Mutti energisch ab und schob mich zurück. »Das schaff ich allein.« Entschlossen stapfte sie fort.
Erst als sie in das Haus einbog, atmete ich durch. Ich brauchte ein paar Minuten für mich und hoffte, dass sie inzwischen keinen gröberen Unfug machte. Wie etwa in den Salat Zucker, statt Salz zu kippen …
Ich hörte, wie in der Nähe der Schulbus hielt. Ach herrje, war es schon so spät? Sunny sprang laut bellend los. Ich spähte um die Ecke und sah, wie meine Tochter herbeihüpfte, die inzwischen die achte Schulstufe besuchte.
Ich schloss sie in die Arme. »Hey, alles klar bei dir?«
»Sicher.«
Ich lächelte Corinna aufmunternd zu. Sie sollte von meinen Sorgen um Oma nichts mitbekommen, sondern ihr Leben als dreizehnjähriger Teenager genießen. Rührselig dachte ich daran, wie schnell die Zeit verflog, sie mich mittlerweile mit meinen einen Meter zweiundsechzig größenmäßig eingeholt hatte. Coris dunkles Haar glich dem von ihrem Vater, ansonsten ähnelte sie mehr mir. Volle Lippen, eine geschwungene Nase, ovales Gesicht und graublaue Augen. Ihr Körper zeigte erste Rundungen und bewies mir, dass sie sich immer mehr zu einer Frau entwickelte. Ich nahm ihr den schweren Schulranzen ab.
»Und, was gibt’s zum Essen?«
»Schinkennudeln.«
Cori legte den Kopf schief. »Sag, hat Oma gekocht?«
Ich nagte an meiner Unterlippe.
»Neeein«, entließ sie genervt. »Dann sind die Nudeln bestimmt matschig und ungenießbar.«
»Komm, gib dem Essen eine Chance. Und wenn es absolut nicht deine Geschmacksnerven trifft, im Kühler sind Pizza oder Chicken Nuggets und Kroketten. Verhungern tust du sicher nicht.« Dass ich ihr freiwillig einen Ausweg Richtung Fast Food anbot, hätte es vor drei Monaten nicht gegeben. Mir war es stets wichtig gewesen, dass eine warme selbstgekochte Mahlzeit am Tisch stand. Unabhängig meiner Dienstzeiten, wenn es sein musste, kochte ich vor.
Corinna schien diese Aussage zumindest zu besänftigen. Sie eilte voraus und rief ein süß klingendes: »Oma Gundi, gibt’s schon Essen?«
Dann umarmte sie ihre Großmutter herzlich, die ihr durch das Haar wuselte, was Cori eigentlich gar nicht mochte, aber ihr zuliebe duldete.
»Komm, setz dich Schätzchen. Ich richte dir an.«
Mein Herz ging auf, als ich das glückliche Strahlen meiner Mutter in den Augen sah. Seit es Opa nicht mehr gab, waren wir ihr Lebensinhalt. Ich gab Sunny das Kommando, sich niederzulegen, die folgsam im Flur Platz nahm. So sehr ich unsere Hündin liebte, aber beim Essen mochte ich sie nicht direkt in unmittelbarer Umgebung haben.
Corinna ließ sich hungrig und erwartungsvoll nieder, während Oma mit einem Schlag zögerlicher wirkte. Der freudige Blick war verschwunden, stattdessen stand sie sichtlich planlos in der Küche herum. Ich stellte den Schulranzen seitlich an der Wand ab, nahm den Schöpfer vom Haken. Als Mutter ihn sah, griff sie danach und erinnerte sich wohl daran, dass sie genau dieses Utensil benötigte.
»Aber nicht zu viel«, bemerkte Cori. »Ich habe erst meine Schuljause gegessen.«
Ich teilte ihren gefüllten Teller aus. Oma richtete auch für mich und sich selbst an, während ich den Salat rasch mit Salz, Essig und Kernöl vermengte – zumindest würde da heute die Würze passen.
Nach einem allgemeinen: »Mahlzeit« langten wir zu.
Cori verzog nach der ersten Gabel Nudelauflauf den Mund und würgte den Bissen hinunter. Als ich selbst kostete, ging es mir ähnlich. Die halb zermatschten Nudeln waren das kleinere Übel, sondern irgendetwas hatte meine Mutter hinzugemischt, was definitiv nicht hineingehörte!
Es dauerte eine Weile, bis ich ihre Geheimzutat erkannte: Zitronensäure. Wie war sie dazu gekommen? Ich erinnerte mich, dass ich eine Dose davon im Küchenschrank hatte, um regelmäßig den Wasserkocher zu entkalken. Diesen Mischmasch konnte man nicht einmal unserem Hund vorsetzen. Selbst Mutti schob das Essen von einer Ecke in die andere, sodass ich es ihr kurzerhand wegnahm. Corinna schaute mich an, während ich mit meinen Emotionen kämpfte, unausgeschlafen war ich ohnehin rührseliger.
»So, heute gibt es einfach Brotzeit«, bestimmte ich.
»Darf ich keine Pizza?«, kam es besorgt von meiner Tochter.
»Doch, doch«, erlaubte ich es ihr.
Corinna sauste gleich los, um im Keller eine aus dem Gefrierschrank zu holen.
»Was ist denn? Habe ich etwas falsch gemacht?« Mutti blickte mich mit großen fragenden Augen an.
»Nein, alles gut.« Ich tätschelte ihr den Unterarm. Sie hatte nichts falsch gemacht, sondern war krank. Und die Medikamente, die sie gegen ihre Alzheimer-Demenz verschrieben bekommen hatte, konnten diese Krankheit maximal etwas verzögern. Und wenn nicht Vati gestorben wäre …
Rasch drehte ich mich um, zwinkerte die aufsteigenden Tränen hinunter. Ich griff nach einem Messer, um ein paar Scheiben Brot abzuschneiden. Im Anschluss holte ich aus dem Kühlschrank Wurst, Käse, Butter und Paprika. Ich butterte für Oma eine Brotscheibe, belegte sie und stellte die Mahlzeit derart portioniert auf einem Teller vor ihr ab.
»Zu Mittag muss man was Warmes essen«, kam es von Gundi. »Was passt denn mit den Nudeln nicht?«
Corinna stob herein. »Oma, nicht böse sein, die isst nicht einmal Sunny.« Sie packte die Pizza in den Ofen.
»Das verstehe ich nicht.«
»Musst du auch nicht.« Cori gab ihr einen Kuss auf die Wange.
Omas Augen wurden gleich sanfter. »Du bist so ein liebes Mädchen.« Sie strich ihr über die Wange.
Ich kaute lustlos an einem Bissen des belegten Brotes, obwohl ich gar keinen Appetit hatte, sondern vor allem, um als gutes Ess-Beispiel voranzugehen.
»Danke Oma – Mama, rufst du mich, wenn die Pizza fertig ist?«
»Natürlich.« Am liebsten wäre ich ebenso aufgestanden. Ich sehnte mich nach einer Auszeit von diesem Gefühlswirrwarr.
Muttis Aufmerksamkeit lenkte sich auf mich. »Herrlich, so ein Schinken-Käse-Brötchen.«
Ich lächelte, als sie genussvoll abbiss. Doch vom Herz ausgehend fegte ein Sturm über mich hinweg, Tränen peitschten unter meiner Oberfläche wild hin und her. Mutti war nur mehr eine Hülle ihrer selbst.
Während sie zufrieden dreinblickte, spürte ich, dass ich mich Stück für Stück von ihr verabschieden musste. So wie Vati nicht mehr da war, um ihn um Rat fragen zu können, würde auch sie immer öfter in ihre eigene Welt abtauchen.
Das machte mir unsagbare Angst! »Ich liebe dich«, wisperte ich ihr mit rauer Stimme zu.
»Ach Weibi, das weiß ich doch!« Mutti griff nach einem weiteren Stück.
Ich war froh, dass zumindest sie heute ordentlich zulangte. Denn jetzt war es meine Mutter, die jedes Gramm auf ihren Rippen benötigte.
Seufzend glitt ich in das warme Wasser unserer Badewanne, bald darauf folgte mein Mann hinein. Wir genossen diese Entspannung. Ein gemeinsames Bad war längst ein Ritual für uns geworden, um die wichtigen Themen anzusprechen und sich nah zu sein. Auch das war in den letzten Wochen deutlich zu kurz gekommen. Musternd glitt sein Blick über meinen Körper.
»Frau Dorfer, Sie haben abgenommen«, stellte Rudolf gespielt förmlich fest.
Schuldig schaufelte ich etwas von dem Badeschaum über meine Haut. »Ach, das kannst du gar nicht so genau sehen.«
»Doch, das sehe ich sehr wohl.« Er klang streng, was mir zeigte, dass er sich um mich sorgte.
»Sag, was war bei dir heute in der Firma los?«
Er legte den Kopf schief. »Das Übliche, Bestellungen, Listen abarbeiten, … aber ich durchschaue deine Taktik, du willst von dir ablenken. Das wird dir nicht funktionieren.«
»Bitte, ich brauche etwas Auszeit. Ich habe nach dem Nachtdienst kaum mehr als zwei Stunden geschlafen.« Ich rutschte tiefer in das Wasser und parkte meine Beine auf seinen Brustkorb.
Rudi griff nach einem Fuß und begann meine Sohlen zu kneten, weshalb mir ein halb schmerzhaftes und dankbares Stöhnen entwich. »Ja – au – oh, ja, genau dort tut es weh.«
»Soll ich sanfter massieren?«
Ich schüttelte abwehrend den Kopf. »Das läuft unter Wohlfühlschmerz.«
»Wir müssen trotzdem reden, wegen Oma Gundi.«
Ich nagte auf der Unterlippe. »Vielleicht habe ich Angst davor, dass du das laut ansprichst, was in mir herumspukt.«
»Und das wäre?«
»Dass … dass ich nicht weiß, wie lange ich durchhalten kann. Ich habe Vati versprochen, alles für sie zu tun, aufzupassen – und vom Gefühl her, tue ich viel zu wenig, während ich nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht.«
»Toni war bewusst, wie zeitintensiv Gundis Betreuung sein kann. Immer Angst zu haben, dass sie etwas vergisst, wie den Herd auszustellen. Ich spür genau, wie die gesamte Situation dir zusetzt. Seit dein Vater tot ist, hat ihr Geist weiter abgebaut, ihre hellen Phasen werden stetig weniger.«
»Vielleicht ist es vorübergehend. Ich habe ihr Trinkampullen besorgt, zum Aufbau. Wenn ich mich bloß noch ein klein wenig zusammenreiße, womöglich wird es besser.«
»Süße.« Rudi wechselte von meinem linken zum rechten Fuß, um dort die schmerzhaften Punkte aufzuspüren. »Bitte, belüge dich nicht selbst. Cori hat mir heute vom neuerlichen Ess-Unfall erzählt. Letztens hat sie Rosinen statt Kaffeebohnen in den Vollautomaten gekippt – der ist völlig hinüber. Oma braucht nicht nur phasenweise Betreuung, sondern ständig. Die können weder du noch ich gewährleisten, solange wir unsere Berufe ausüben.«
Ich rutschte zurück und entzog ihm meinen Fuß. »Irgendwie muss es möglich sein. Was ist, wenn ich kündige, oder … oder zumindest die Stunden reduziere?«
Rudi blieb angesichts meiner aufgewühlten Emotionen gelassen. Er war ohnehin der Pragmatischere von uns beiden. »Gut, dann spielen wir mal deinen Plan durch. Obwohl ich sehr wohl verstehe, dass du für deine Mutter, so wie du es für deinen Vater warst, bis zum Schluss da sein möchtest. Aber die Voraussetzungen sind ganz andere. Dein Vater war klar, der hat keinen Blödsinn gemacht, sich an Absprachen gehalten. Zur Not konnte er mit dem Handy Hilfe organisieren, wenn ein Problem aufgetaucht ist. Das geht bei deiner Mutter alles nicht. Ihr Tages- und Schlafrhythmus wechselt, sie isst sporadisch und sie vergisst oft Dinge, die sie machen wollte, fast im selben Moment. Das ist keine Stundenbetreuung mit Erholungsphasen, sondern ein Fulltime-Job. Du müsstest rund um die Uhr parat stehen. Wie willst du das stemmen, auch wenn du nicht mehr als Krankenschwester arbeiten würdest? Zudem bist du emotional so mit ihr verbunden, dir fehlt der nötige Abstand. Du bist meine kleine Perfektionistin, aber reibst dich genau deswegen auch auf. Und was wäre schlecht daran, wenn Oma in ein Heim geht? Dort gibt es Gleichgesinnte in ihrem Alter. Sie hat mehr Sozialkontakte, als wir ihr bieten können, es gibt sogar eigene Programme, um ihr Gedächtnis zu stärken …«
»Du willst sie in ein Heim abschieben!«, keuchte ich verzweifelt nach seinem Monolog. »Ich tu eh alles allein, um euch nicht zu belasten!« Ich hastete aus der Badewanne, schlang ein riesiges Handtuch um meinen triefenden Leib.
»Ich will, dass sie bestens betreut wird – ohne dass du dich dabei verlierst. Ich erkenne dich kaum mehr wieder.«
Rudi stieg ebenso aus der Wanne, während ich inmitten des Badezimmers verharrte. Nicht verlieren!, pochte es in mir. Ich wollte nie mehr jemanden verlieren! Weder mich noch jemand anderen! Dass Vati fort war, tat nach wie vor weh!
Rudi trat heran, strich mir eine nasse blonde Haarsträhne aus der Stirn. »Das Funkeln aus deinen Augen ist verschwunden, dein Lächeln gibt es nur mehr ansatzweise, da sind dunkle Schatten in deinem Gesicht. Ganz ehrlich, ich mag deine Mutter sehr. Sie gemeinsam mit deinem Vater im Haus zu wissen, war über Jahrzehnte eine der wertvollsten Erfahrungen für mich, weil ich so ein liebevolles Miteinander von meinen Eltern nicht kannte. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, würde ich an Hauskrankenpflege denken, aber was hilft eine Stunde am Tag? Für eine Vierundzwanzigstundenbetreuung haben wir nicht die passenden Räumlichkeiten und einen Anbau schaffen wir niemals zeitgerecht, da wären die Kosten noch das kleinere Übel.«
»Du … du hast dich erkundigt?«, stotterte ich, während Tränen in meinen Augen brannten.
»Ja, das habe ich. Darüber hinaus solltest du an unsere Kinder denken. Corinna mit ihren dreizehn und Manuel mit seinen bald achtzehn Jahren benötigen zwar nicht mehr so viel Unterstützung, aber sie brauchen trotz allem unsere Anleitung, Schutz und Fürsorge. Wir müssen für die beiden ebenso da sein. Denke an die zeitraubenden Stunden, wenn wir als Beifahrer mit Manuel die Kilometer für die Fahrschule abspulen müssen. Auch das ist wichtig. Das sind noch drei intensive Monate bis zu seiner Prüfung im Dezember.«
Ich schluckte. Rudi hatte mit allem recht. Aber es tat so weh! »Mutti liebt die Kinder! Siehst du nicht, wie sie strahlt, wenn die beiden um sie sind? Da geht sie in ihrer Rolle als Oma richtiggehend auf.«
Rudolf seufzte. »Natürlich sehe ich das. Aber in Wahrheit sind das flüchtige Momente.«
Mir zerriss es fast das Herz, ich schluchzte auf. »Sie wird mich hassen!«
Er zog mich nah an seinen Körper, strich besänftigend über meinen Rücken. »Liebes, denkst du nicht, dass du dann, ohne der Überlastung, die Zeit mit deiner Mutter besser genießen könntest?«
Trotzig schüttelte ich den Kopf. Nein, das hier war Muttis Zuhause! Da kannte sie sich aus. Ich hatte kein Recht dazu, sie wegzuschicken wie ein ungeliebtes Spielzeug! Wie sollte sie sich mit ihrer Erkrankung woanders zurechtfinden?
»Noch dazu will der Chef, dass ich die Geschäftsreise nach Frankreich übernehme. Ich habe um ein paar Tage Bedenkzeit gebeten.«
Normalerweise waren Rudis häufige Geschäftsreisen bisher kein Hindernis für mich gewesen, aber nun ängstigte mich die Vorstellung, ohne ihn und seine Ausgeglichenheit zu bleiben. »Wann sollst du los?«, fragte ich erstickt und blickte in seine dunkelbraunen Augen hoch.
»In drei Wochen.«
»Für wie lange?«
»Voraussichtlich für fünf Tage.«
In meinem Kopf rotierte es. Falls ich da Dienst hatte, musste ich Kollegen bitten, ob sie mit mir tauschten. Unser Dienstplan stand bereits einen Monat im Voraus fest und da konnte ich kein Wunschfrei mehr einschreiben. Aber wollte ich tatsächlich den Kindern zumuten, dass sie dann nachts mit Oma alleine blieben, falls ich nicht freibekam?
»Vielleicht können wir Gundi vorübergehend zur Kurzzeitpflege in ein Heim geben, das würde für uns alle eine Erleichterung sein und wir müssten den Kindern nicht die Verpflichtung mit Oma aufbürden. Danach können wir die Situation neu bewerten«, sprach Rudi laut aus, was ich ebenso gedacht hatte. Er suchte einen Kompromiss.
»Kurzzeitpflege – auf absehbare Zeit?«
Er nickte. »Wir können uns langsam darauf einstellen, wie diese Veränderung für uns ist. Womöglich gefällt es Oma sogar im Heim und wir machen uns zu viele Sorgen darüber. Bestimmt würde auch dir dieser Schritt dann leichter fallen.«
»Das ist eine Option«, stimmte ich zu, während mein Herz schmerzte. Im Grunde genommen konnte ich mich mit diesem Gedanken, sie wo anders unterzubringen, nicht anfreunden. Ich wollte für sie da sein! Damit Vaters Wunsch entsprechen! Irgendwo in meinem Unterbewusstsein rauschte seine Stimme: Versprich mir, dass du dich nicht verlierst! Würde Vati diese Entscheidung gutheißen? Ich lehnte mich matt an Rudis Schulter, war dankbar für seine starken Arme, die mich hielten.
Auf einmal polterte es lautstark im unteren Geschoss und ließ uns auseinanderfahren!
»Oh Gott, das kam aus Muttis Zimmer!« Statt dem Badetuch warf ich mir einen Bademantel über.
»Mist, was hat sie denn jetzt schon wieder gemacht!« Auch Rudi beeilte sich, schlüpfte in trockene Sachen und ich startete los nach unten.