1947: Die achtzehnjährigen Zwillinge Maria und Andreas helfen am elterlichen Hof, sind eng miteinander verbunden. Maria schwärmt im Geheimen für Andreas’ Freund Markus. Sie ist eifersüchtig darauf, weil ihr Bruder Zeit mit ihm verbringt, was sie gerne täte. Der Tod ihrer Eltern wirbelt alles durcheinander. Auf einmal ist da ein reicher Onkel, der die Vormundschaft über die Geschwister trägt und als Bürge fungiert. Andreas fühlt sich um sein Erbe gebracht. Wird er sich Onkel Alfons fügen? Hat die Liebe zwischen Maria und Markus eine Chance? Und welches Ziel verfolgt Alfons tatsächlich?

 

Erhältlich als Taschenbuch: 9783754148198

Oder als E-Book: 9783753194349

Leseprobe:

GESCHWISTER

Juli 1947

Steil und steinig stieg der Pfad vor Maria und ihrem achtzehnjährigen Zwillingsbruder Andreas Schneider an. Sie befanden sich auf dem zehn Kilometer langen Nachhauseweg, den sie zu Fuß zurücklegen mussten, und wofür sie etwa zwei Stunden benötigten. Verkürzen konnten sie die Wegstrecke nur, wenn sie den Steig durch den Wald wählten, an dem die Bäume meterhoch emporragten. Das wuchernde Gestrüpp auf beiden Seiten machte ein nebeneinander Hergehen undenkbar. Der Gewitterregen der letzten Tage hatte den Pfad glitschig gemacht, was das Vorwärtskommen zusätzlich erschwerte. Es roch modrig feucht, da sich kaum Sonnenlicht durch die Äste, Blätter und Nadeln hereinverirrte, während sie die sengende Hitze aussperrten. 

Maria rutschte aus, der Dorn eines Hagebuttenstrauchs verhakte sich bei ihrer Bluse. »Ich hab dir ja gesagt, dass es keine gute Idee ist, bei dem aufgeweichten Boden die Abkürzung zu nehmen.« Vorsichtig löste sie den Widerhaken aus dem Stoff, schaffte es, ohne das Gewebe zu zerreißen oder einen Kratzer abzubekommen. 

»Sei nicht so zimperlich!«, kam es barsch von Andreas zurück, der sich nicht einmal umdrehte, sondern stur weiterging.

»Bestimmt brauchen wir länger, als wenn wir gleich die Schotterstraße ausgegangen wären.« Verstimmt hob Maria mit ihren Händen die Lederriemen der Tasche an. Heute schnitten sie besonders schmerzhaft in ihre Haut, da sich etliche Bücher in ihrem alten Ranzen befanden, die sie ausnahmsweise mitnehmen durfte. Sie schielte zu den feinen Gurten. Die Riemen wirkten brüchig. Zum Glück hatte sie diese mit dem festen Garn verstärkt, sonst würden sie die Last nicht aushalten. So leistete der Tornister, der sie seit ihrem ersten Schultag begleitete, nach wie vor gute Dienste.

Maria machte den nächsten Schritt, um dem Bruder nachzukommen. Sie musste aufpassen, dass sie nicht neuerlich mit ihren abgenutzten Schuhsohlen den Halt verlor. 

Das steilste Stück befand sich direkt vor ihnen, wo sie über einen kleinen Felsen klettern mussten. Maria hielt sich an einer Wurzel fest, die seitlich herausragte, hangelte sich daran hinauf, wobei ihr wadenlanger Rock sie behinderte. Andreas hatte es da mit seinen langen Beinen und den Hosen bedeutend leichter als sie. Er sprang hoch, als ob er in seinem vorherigen Leben ein Steinbock gewesen wäre. In seiner Eile trat er einen Stein los, der Marias Fußspitze streifte.

»Au! Pass doch auf!«, maulte sie prompt.

Andreas hielt an, schaute zurück. Hab ich sie arg erwischt? – Nein, sieht nicht so aus. »Beeil dich besser! Heute bist du wieder einmal in einem Schneckentempo unterwegs!«

»Ich finde den Weg alleine! Geh doch vor, wenn du es gar so eilig hast!«

»Mutter und Vater wollen nun mal nicht, dass du ohne mich gehst! Glaubst du, mir gefällt es, ständig auf dich warten zu müssen?«

»Wegen der paar Minuten schimpfst du, die du mit mir länger brauchst? Wer steht denn meist eine Stunde vor dem Sägewerk herum, und muss warten, bis deine Schicht zu Ende ist?!« Maria schloss zu ihm auf, der Bruder überragte sie um einen Kopf. Sie ließ die Tasche von den Schultern gleiten, die hart auf den Boden plumpste. 

»Lamentier darüber nicht bei mir, sondern bei den Eltern! Trotzdem musst du dich an mich halten, immerhin bin ich der Ältere.«

»Lächerliche zehn Minuten!«

»Als ob ich das nicht selbst wüsste!« Er zog eine Fratze. »Du kennst den Grund, weshalb sie so einen Affentanz veranstalten, es geht um deine Sicherheit!«

»Sicherheit?! Als ob ich mich nicht zu wehren wüsste!« Maria schöpfte nach Atem. »Vor den britischen Soldaten habe ich keine Angst! Dorli geht sogar mit einem zum Tanz!«

»Deine Freundin Dorli ist ein gutgläubiges Ding. Ich traue keinem Besatzungssoldaten, ganz gleich, aus welcher Nation er stammt!«

»Das sieht dir ähnlich, stur und voreingenommen. Die Engländer bringen wenigstens Geld ins Land, während die Russen Häuser besetzen und die Siegermacht heraushängen lassen. Und es waren alliierte Truppen, die uns aus dem schrecklichen Krieg befreit haben!«

»Und was ist mit den Franzosen? Die hast du in deiner Aufzählung vergessen!«

Maria zischte verstimmt. »Zu denen kann ich nichts sagen. Die meisten sind in Tirol, Vorarlberg und Wien stationiert. Dort habe ich nichts zu schaffen.«

Andreas musterte die Schwester. Sie war nicht nur klug, sondern eine Schönheit mit den schwarzen Locken, leuchtenden hellgrünen Augen und Rundungen an den richtigen Stellen. Äußerlich war sie zur Frau herangereift, doch in Hinblick, wenn es um Männer ging, wirkte sie für ihn so naiv wie ein Kind. Er traute den Kerlen nicht, die in der Gegend herumschlichen. Besonders dem Briten Walter nicht, der nach jedem hübschen Mädchen schielte! Sogar seinem Freund Markus hatte die Schwester den Kopf verdreht. Der war wenigstens ein Ehrenmann und würde viel besser zu Maria passen! »Was soll das nun bedeuten? Dass alle englischen Soldaten ehrenwert sind? Wohl kaum! Hineinschauen kannst du in keinen, wie er ist! Oder hat ein Brite dich schon um den Finger gewickelt? Wie dieser Walter? Fährt mit dem protzigen Auto umher. Ich frag mich, wie er sich den leisten kann!«

Maria presste unwillig die Lippen aufeinander, sie massierte sich die verspannten Schultern. Walter wollte ihr erst letztens einen Strauß roter Rosen schenken. Beim Dorfwirt, wo ihre Freundin Dorli arbeitete, hatte er sie abgepasst. Heimlich war er ihr bis zum stillen Örtchen gefolgt. Maria empfand ihn als zu aufdringlich. Noch dazu kamen ihr die Rosen übertrieben und unpassend vor. Dorli kam gerade recht, als sie ihm den Strauß vor die Füße geworfen hatte. Ohne zurückzublicken war sie mit ihrer Freundin in die Stube gegangen. Ob sie ihn zu schroff abgewiesen hatte? Er sollte sich keinesfalls Hoffnungen machen, denn ihr Herz würde er nie entflammen, da war Maria sich sicher. »Was soll ich mit einem Kerl, der kaum Deutsch spricht und ich mit dem bisschen Englisch.«

»Das klingt nicht wie ein klares Nein!«

»Glaubst du, ich hätte nicht bemerkt, dass er hinter jedem Rockzipfel her ist! So einen will ich ganz sicher nicht.«

»Dann hoffe ich, dass das so bleibt.« Es raschelte in der Nähe, ein Eichhörnchen kletterte einem Baumstamm entlang, ehe es aus Andreas’ Sichtfeld entschwand. »Wenn wir doch so frei wie das kleine Nagetier sein könnten«, sinnierte er. »Aber nein, unsere Befreier sind zu Besatzer geworden.«

»Ach komm, man spürt kaum, dass die Soldaten da sind. Kein Vergleich zum Krieg! Jammern hilft uns nicht weiter. Wir haben überlebt, eine Landwirtschaft und ein Dach über dem Kopf. Was sollen die anderen sagen, die in zerstörten Gebäuden hausen oder in Schuppen leben. Viele stehlen und plündern aus purer Verzweiflung und Hunger. Die benötigen unsere Hilfe.«

»Plündern, stehlen, und Frauen vergewaltigen, ... So etwas kann ich niemals gutheißen!«, bemerkte Andreas impulsiv. »Es gibt reichlich Arbeit, wenn sie wollen würden, auch bei uns am Hof! Aber dieses Pack klaut, was es kriegen kann! Und denen willst du unter die Arme greifen? Kein Wunder, dass die Eltern dich mit solchen Ansichten nicht allein heimgehen lassen! Hast du vergessen, was mit Zenzi passiert ist? Soll dir dasselbe passieren? Irgendwo läuft der Kerl frei herum. Hockt vielleicht in einem Wirtshaus, trinkt und sucht nach einem neuen Opfer!«

Maria zuckte zusammen. Gut, dass Andreas bei ihr war! Sie mochte es nicht, wenn die Kerle ihr gierig hinterherglotzten! Ein Bursch hatte Zenzi, der Müllers Tochter, brutal Gewalt angetan. Seit zwei Jahren traute sie sich kaum mehr auf die Straße. Sie besuchte nicht einmal den sonntäglichen Gottesdienst! Gefasst hatte man den Kerl bisher nicht. Manchmal, wenn Maria vor dem Sägewerk auf den Bruder wartete, sah sie das Mädchen bleich durch den angrenzenden Garten huschen, wo es mit den Eltern wohnte. Dass der Vorfall Zenzi gebrochen hatte, war unverkennbar. Maria gruselte es kalt den Rücken runter. Ob der Kerl noch in der Gegend war? Unwahrscheinlich – zumindest gab es keinen weiteren bekannten Fall. »Das mit Zenzi ist unsagbar schlimm, und gleichzeitig ist sie ein Beispiel dafür, dass Menschen unverschuldet in Not kommen können. Ich bin dankbar, dass du an meiner Seite bist und mich beschützt. Es fällt mir allerdings schwer, deine Hilfe anzunehmen. Mir gegenüber gibst du dich gerne hart und kalt. Genauso, wie Vater zu unserer Mutter ist!«

»Spinnst du? Mich mit dem alten Herrn zu vergleichen? Von seinem Jähzorn bin ich weit entfernt. Bei ihm gibt es bloß raue Töne, während er die Arbeit schleifen lässt, vermehrt zum Most greift und in sich reichlich Essen reinstopft. Bei sich selbst, da kennt er keinen Geiz! Aber ich muss schaffen, im Sägewerk und daheim!« Andreas setzte sich grollend in Bewegung. Wie konnte Maria es wagen, ihm so etwas an den Kopf zu werfen! Zimperlich war er gewiss nicht. Arbeitete wie ein Erwachsener, konnte mit Waffen umgehen, schoss Rehe, Hirsche oder Hasen, und machte die Hausschlachtungen ohne Hilfe des Vaters! Doch jemanden geschlagen, wie es der alte Herr gerne tat, hatte er nie! Andreas konnte sich gut an dessen Hiebe erinnern, ob mit der Hand oder einer Gerte. Erst seit er ihn überragte und stärker war, hielt sich der Vater zurück, obwohl Andreas oft ein gefährliches Glitzern in dessen Augen entdeckte.

Maria nahm die Tasche seufzend hoch, sie schien ihr schwerer als zuvor. »Du weißt, dass es um Vaters Gesundheit nicht zum Besten steht, und er sich laut dem Arzt schonen muss. Außerdem bist du bei den Arbeiten nicht allein. Mutter melkt die beiden Kühe, ich füttere die Schweine sowie die Hühner, und unser Knecht Georg mistet die Ställe aus. Sei froh, dass das Vieh im Sommer meist auf der Weide ist. Sonst könntest du weniger häufig zu deinem Freund Markus laufen. Die harte Zeit hat bei Vater Spuren hinterlassen, jeder geht anders damit um, das kannst du ihm nicht vorwerfen. Zum Glück wurde er wegen seiner kriegsgewichtigen Tätigkeit nicht eingezogen. Die hohen Abgaben haben Mutter und ihm alles abgefordert. Wenigstens sind die beiden noch da, nicht so wie Jakob, der in den Kampf ziehen musste, und nie mehr heimgekehrt ist!«

Jakob! Es stach schmerzhaft in Andreas’ Brust als er an den älteren Bruder dachte. Er beschleunigte den Schritt. Wie es sich anfühlt, mit erhobener Waffe einem Menschen gegenüberzustehen, den Finger am Abzug? Er erschauderte. Erst nach dem Kriegsende hatten sie erfahren, dass Jakob im Dienste des Staates gefallen war. Eine Granate hatte sein Leben ausgelöscht. Nach ungewissen Monaten, in der es keine Nachricht von ihm gegeben hatte, wirkte die Mitteilung von seinem Tod beinahe erleichternd. Denn der Gedanke, Jakob könnte in Gefangenschaft sein, oder verletzt dahinvegetieren, war noch unerträglicher. So wurden ihr Bangen und Hoffen von einer schmerzhaften Gewissheit abgelöst. Doch eine schlüssige Erklärung, wo der Bruder über die Zeit abgeblieben war, in der es keine Mitteilung gab, erhielten sie nicht. Andreas sah zurück zu Maria. »Was ist jetzt? Willst du Wurzeln schlagen?«

Maria verkniff sich eine Entgegnung. Auch sie wollte endlich heim. Wartend klopfte Andreas mit dem rechten Fuß auf den Boden, bis sie aufgeschlossen hatte. »Gib schon her, du keuchst ja wie eine Dampflok!«

Perplex betrachtete Maria ihn. Unter dem Hemd des Bruders zeichneten sich die harten Muskeln ab. Seine braunen Augen blitzten belustigt. »Mach schon, bevor ich es mir anders überlege.«

»Auf eigene Gefahr, die Tasche ist schwer. Ich nehme dafür deine.« Maria hängte sich seine um. Das Werkzeug darin wirkte wie das reinste Fliegengewicht. Was für eine Wohltat für ihre Schultern!

»Mein Gott, hast du Steine eingepackt?«, kam es von Andreas, als er durch die Lederriemen schlüpfte.

»Nein, Bücher.«

»Seit wann habt ihr Bücher an der Schule?«

»Vom Pfarrer Ludwig.« Maria strich sich eine gelockte Strähne hinter ihr Ohr. »Er war in Graz, und hat an uns gedacht.«

»Wie nett von ihm.«

»Die Bildung der Kinder ist ihm eine Herzensangelegenheit.«

»Herzensangelegenheit.« Andreas runzelte unwillig die Stirn. »Rede nicht so geschwollen daher.«

»Spinn nicht herum. Du weißt, dass ich gerne als Betreuerin in der Dorfschule arbeite. Ich habe versprochen, Fragebögen für die Geographieprüfung der Kinder auszuarbeiten. Außerdem bekomme ich dafür einen Lohn. Ich freu mich schon auf die ersten richtigen Tanzschuhe, die ich mir davon kaufe. Mutter ihre, die ich sonst nehme, sind ziemlich abgetragen. Und dann spare ich auf eine richtige Ausbildung.«

»Was soll dir Bildung bringen? Über kurz oder lang wirst du daheimsitzen, bei einem Mann und einer Stube voller Kinder.«

»Da täuschst du dich!« Aufgebracht stapfte Maria an ihm vorbei. Die Arbeit mit den Kindern gefiel ihr, doch lieber wäre sie Krankenschwester! Aber Vater hatte weder das Geld für die Ausbildung in Graz, noch wäre er damit einverstanden, dass sie den Hof verließe. Jede Arbeitskraft würde fehlen, obendrein so billige, wie sie es als Kinder waren, wo er keinen Lohn zu zahlen brauchte.

Maria steuerte auf das Ende des schmalen Pfades zu, die Hitze verstärkte sich, als sie aus dem Schatten trat. Vor ihr erstreckte sich die Wiese, eingebettet mit den verschiedensten Blumen und Kräutern. Bald würden die Tiere in diese Weide kommen, und sich über das saftige Grün freuen. Nach dem Stand der Sonne zu urteilen, hatten sie sich trotz der Abkürzung verzettelt. Oberhalb auf dem Weg entdeckte sie Georg, der auf dem Heurechen lehnte, und ihnen freudestrahlend zuwinkte. Er musste Gras vom Abhang herunterbefördern, und dieses dann mit einem Schubkarren heimwärts bringen.

Maria lächelte ihm zu. Sie mochte den einzig verbliebenen Knecht am Hof. Für seine Arbeiten brauchte er lange, da er gerne und häufig Pausen machte, die Natur beobachtete, oder ausgiebig die Hofkatzen streichelte. Nicht einmal der Vater schaffte es, ihn anzutreiben. Doch wichtig war das Endergebnis, und da gab es nichts zu meckern.

»Grüß dich Georg, schon fertig? Oder soll ich dir nachher helfen kommen?«, rief Andreas ihm zu.

»Nischt nötig, hab nur mehr ein kleinesch Stückschen vor mir.« Durch seine Zahnlücken klangen die Wörter immer etwas zischend. Georg humpelte weiter, tat sich an den Steilhängen schwer. Seit der Kinderlähmung, die ihn in jungen Jahren befallen hatte, zog er das linke Bein nach. Lesen, Rechnen und Schreiben hatte er nie gelernt, dafür besaß er ein großes Herz für alle Tiere.

»Seinen Gleichmut würde ich gerne haben.« Andreas blickte zu seiner Zwillingsschwester.

»Am Tag schon, aber in der Nacht, da holen Georg seit dem Tod seiner Schwester Anna die Dämonen ein, und er trinkt dann viel zu viel.« Maria seufzte.

»Hier muss ich Vater wenigstens zugutehalten, dass er sich für ihn eingesetzt hat. Ohne seine Fürsprache wäre Georg längst tot, vergast wie andere Behinderte, oder zwangssterilisiert.«

»Daran mag ich gar nicht denken. – Wie viele Männer wohl im verdammten Krieg gestorben sind? So sinnlos. Jakob hat den Tod ebenso wenig verdient! Manchmal erträume ich mir, dass er irgendwo anders ein neues Leben beginnen durfte! Obwohl, mit dem Schrecken des Krieges im Nacken, ist da ein Tod nicht besser?« Eine einzelne Träne löste sich aus Marias Augenwinkel, folgte der Schwerkraft, tropfte ins Gras.

»Eine gerechte Welt wird es niemals geben.« Andreas blieb an ihrer Seite, als sie dem Wiesenpfad folgten. Das Gras säuberte die matschigen Schuhe. Noch etwa dreihundert Meter hatten sie bis zu ihrem Heimathaus zu bewältigen.

Gerechte Welt? Es schmerzte in Marias Brust, als sie an die Kinder dachte, die häufig mit hungrigen Bäuchen in der Schule saßen. Viele bekamen keine Jause mit, sodass mittags die Suppe oder das Gulasch wie ein Festmahl wirkten. Maria zweigte von daheim mitunter Eier, Gemüse und Salat ab, um es aufzuteilen. Vater durfte das niemals bemerken! Nicht einmal ein Stück Brot hatte er übrig, wenn sich mal ein Bettler auf den Hof verirrte! Seine Hartherzigkeit konnte sie schwer nachvollziehen. Ob er womöglich Angst davor hatte, die Russen würden wiederkommen? Wenn die Soldaten damals im Krieg die Höhle gefunden hätten, in der sie Schweine und Hühner verborgen hielten, wäre das für die gesamte Familie ein Todesurteil gewesen! Maria schielte zu ihrem Bruder. Andreas hatte als Junge, bei seinen Streifzügen durch den Wald, die Höhle aufgespürt und Vater als Versteck vorgeschlagen.

»Es ist eine schwierige Zeit.« Andreas wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Die Zukunft ist ungewiss. Wir befinden uns im Aufbau, die Wirtschaft soll angekurbelt werden. Mit was, frage ich mich. Zwar haben wir wieder den Schilling, aber man munkelt darüber, dass uns eine weitere Geldentwertung bevorsteht.« Er war bei seinem Lieblingsthema angelangt: Politik.

»Wir können das nicht ändern.«

»Das will ich nicht glauben! Nie mehr will ich einen Krieg miterleben! Die anderen dürfen nicht so über unsere Köpfe hinweg entscheiden. Wir sind die Generation von morgen! Schau dich um. Gleich dort drüben ist der Bombenkrater zu sehen, auch wenn inzwischen Gras darüber wuchert! Im Ort sind viele Häuser zerstört. Dachstühle, Fassaden, Fenster – da gibt es genug zu richten. Es scheitert nicht an der Arbeit, sondern an der Bezahlung, dem fehlenden Material und den Maschinen!«

»Wir haben eine funktionierende Dorfgemeinschaft, das ist besser als nichts. Viele helfen sich gegenseitig, tauschen, was sie grad entbehren können. Wie man hört, haben wir es im Vergleich zu den Städten gut.«

Unwillig presste Andreas die Lippen aufeinander. »Du siehst immer alles zu positiv.«

»Nein, du bist zu pessimistisch. Warum kannst du nicht dankbar sein? Wir leben.«

»Und Jakob ist tot.«

Maria überkreuzte die Finger oberhalb ihres Herzens. »Gott möge mit ihm sein. – Weißt du noch, wie wir auf seinem Schoß sitzen durften. Tausend Nachtgeschichten hat er uns erzählt, oder mehr. Wenn wir Albträume hatten, kam er, um uns zu trösten.«

Andreas ergriff die Hand seiner Schwester. »Wie könnt ich das vergessen. Acht Lebensjahre haben uns getrennt. Du warst seine Prinzessin und ich der kleine Prinz.«

Ein dumpfer Schmerz loderte in Marias Brust. Sie erinnerte sich daran, als Jakob sich verabschiedete, um in den Krieg zu ziehen. Maria hatte sich an seinem Hemd festgekrallt, wollte ihn nicht gehen lassen! Auch seine Augen schimmerten feucht. Das hatte sie sich nicht eingebildet, obwohl er es vehement abstritt. Nie würde sie vergessen, wie sie getobt, geschrien und geweint hatte! Tagelang. »Was für ein Entsetzen musste er durchstehen? Schmutz, Kälte, Läuse, der Kampf ums nackte Überleben, und dem Gedanken, dass jede Sekunde die letzte sein könnte.«

»Wer ist nun pessimistisch?« Andreas strich zärtlich über das schwarze Haar der Schwester.

Maria hatte Andreas zuvor Unrecht getan, als sie ihn als kalt bezeichnet hatte, denn im Grunde genommen war er sanft und liebevoll. »Wir haben nicht einmal ein Grab, um zu trauern«, sprach sie erstickt.

»Wir haben den Ahorn, den wir für ihn gepflanzt haben.« Andreas deutete zum Baum, den sie fast erreicht hatten. Hoch war er geworden, stark und gerade gewachsen. »Ganz gleich, ob wir draußen sind, oder aus dem Fenster schauen, er steht da. Unablässig können wir beobachten, wie er wächst und sich in den Jahreszeiten verändert. Das ist unsere Gedenkstätte für Jakob.«

Maria wischte sich über die feuchten Wangen. »Du hast recht. Verzeih, ich weiß auch nicht, weshalb ich heute so rührselig bin.«

»Dafür brauchst du dich nicht entschuldigen. Ich vermisse Jakob ebenso. Wir alle mussten Verluste erleiden. Denk an Markus. Die Brüder meines Freundes sind im Gefecht gefallen, und vor einem halben Jahr hat ein Brand das Leben seiner Eltern ausgelöscht und gleichzeitig das Heimathaus zerstört, während er fernab im Holzschlag schuftete. Plünderer haben ihn ins Unglück gestürzt, zu einem Vollwaisen gemacht, alles abgefackelt, wohl aus Frust, weil es nichts zum Holen gab, was sich lohnte. Ich bewundere ihn dafür, dass er sich so tapfer hält.«

»Ja, Markus.«

»Warum sprichst du seinen Namen so seltsam aus?« Andreas musterte die Schwester. Ob er ein bisschen Liebesbote spielen sollte? Die beiden würden gewiss ein hübsches Paar abgeben!

»Tu ich nicht!«, wiegelte Maria ab. Andreas brauchte nicht zu wissen, dass sie auf diese Freundschaft eifersüchtig war! Ständig lief er zu Markus, und verbrachte seine Freizeit bei ihm. Er hatte einen Zufluchtsort, während Dorli kaum mehr Zeit für sie erübrigte. Zuhause wurde es dazu immer unerträglicher. Vater war dauernd gereizt, scheuchte Mutter und sie umher, während er in seinem Sessel neben dem Herd thronte und sich nur erhob, um die Arbeiten zu überwachen. Früher, da hatte er geschuftet! Nun bedauerte er sich selbst, klagte, wie knapp das Geld wäre und wie ungerecht das Leben einem mitspielen konnte! »Wir sollten weiter, ehe die Eltern über unser verspätetes Kommen sauer werden. Bestimmt können sie uns schon aus dem Fenster sehen, und schimpfen, wenn wir so langsam gehen.«

 

ONKEL ALFONS MIT GESCHENKEN

Schmucklos und schlicht war das elterliche Haus, ein zweigeschossiger Bau aus schwarzgrau verwittertem Holz. Einen Keller gab es nicht. Wenn man näherkam, sah man, dass einiges einer Renovierung bedurfte, wofür das Geld fehlte. Die kleinen Fenster ließen kaum Licht in die Innenräume fallen. Eine Scheibe war gerissen und notdürftig mit Zeitungspapier und Kleister verklebt, sowie mit dickem Stoff verhangen.

Im oberen Stockwerk standen Eimer und Krüge bereit, die bei Regen das Wasser auffingen, das durch die losen Schindeln tropfte. Der angrenzende Stall war dick gemauert, sodass die Tiere – Kühe, Schweine, Pferde, Schafe und Hühner – einen guten Unterstand hatten, der Schutz vor Wind und Wetter bot. Doch beim aufgesetzten Holzteil fehlten Bretter, machten durch die vielen Lücken die Tenne, in der das Futter für das Vieh lagerte, zugig. An das Stallgebäude angebaut, verbarg sich Georgs Unterkunft, eine Holzbaracke.

»Was ist das für ein Auto?« Andreas bemerkte zuerst den Wagen, der vor dem Anwesen abgestellt war. Dunkelblauer Lack glitzerte ihnen entgegen, der durch die Sonne reflektiert wurde. Im Dorf gab es drei Familien und diesen Briten, die sich einen fahrbaren Untersatz leisten konnten. Die kannte er. Aus der Gegend stammte der Wagen nicht!

Maria versuchte, mit den eiligen Schritten des Bruders mitzuhalten. Ob das Walter ist? Hoffentlich bekommen die Eltern keine Probleme, weil ich ihn abgewiesen habe!

In der Hofeinfahrt wurden sie beide von Mutter abgefangen. »Halt, nicht so schnell!«, rief Margarethe und versperrte ihnen den Weg.

Andreas umkreiste den Wagen, wie es ein Tier bei seiner Beute tun würde. Obwohl es in seinen Fingern prickelte, fasste er nichts an. Auf der Motorhaube schimmerten Tausende winzige Sterne.

Gott sei Dank, es ist nicht Walter! Maria betrachtete respektvoll dieses Wunderding. Schade, dass wir nicht so einen Wagen haben, könnten so viel Zeit damit einsparen!

»Das ist ein Mercedes Benz 170V, schau dir den imposanten Kühlergrill an!« Das Chrom glänzte wie poliertes Silber. »Wer ist zu Besuch?«, hakte Andreas nach.

»Onkel Alfons.« Margarethes Stimme klang sonderbar matt.

»Unser Onkel!« Andreas ballte seine Hände zu Fäusten. Der Enthusiasmus bezüglich des Wagens war wie weggeblasen. »Was will der hier? Sonst hat es ihn auch nie geschert, wie es uns geht!«

Maria wich einen Schritt von ihrem Bruder zurück, mochte es nicht, wenn er so angriffslustig wirkte. Seine Stirn glänzte verschwitzt nach dem steilen Aufstieg, das Haar stand verstrubbelt zu den Seiten ab. Die Augen hatte Andreas zusammengekniffen. Sie kannte diesen Ausdruck. Entschlossen, stur, zu allem bereit und Dummheiten nicht abgeneigt. Hoffentlich stürmt er nicht hinein!, bat Maria stumm.

»Bleibt ja heraußen und stört die Unterredung nicht!«, befahl Mutter im herrischen Ton. »Ich bringe euch das Trinken und Essen ausnahmsweise zur Bank.«

»Ich kann dir helfen, die Teller herauszutragen, damit …«

»Nein!«, unterbrach Margarethe die Tochter, rauschte davon.

Verwundert sah Maria ihr nach. Normalerweise bestand Mutter stets auf Hilfe! War sie wegen Onkel Alfons so angespannt? Diesem Kriegsgewinnler? Sie schielte zu dem protzigen Wagen. Ob er sein Herz entdeckt hat, und uns helfen möchte? Immerhin war er Vaters Bruder, hier aufgewachsen.

Andreas ließ neben sich den schweren Ranzen auf den Boden plumpsen, stieß zischend Luft aus.

Oje, er sah genauso aus wie vor einem Jahr, als er trotz heftigen Regens, und nach einem Streit mit dem Vater, losgezogen war, um nach einem verschollenen Tier zu suchen. Damals kam er zurück, ohne den kleinen Stier, dafür völlig durchnässt mit einem gebrochenen Arm und Prellungen am gesamten Körper! Ob er über einen Felsen gestürzt war? Über den Hergang schwieg er sich bis heute aus, das Tier wurde nie gefunden.

Seine Schmerzen standen ihm jedoch ins Gesicht geschrieben. Im Krankenhaus bekam er einen Gips. Wochen später wurde festgestellt, dass der Bruch falsch zusammengewachsen war und er die Hand bloß eingeschränkt verwenden konnte. Mutter traute den Ärzten nicht mehr. Vater schimpfte, weil Andreas’ Arbeitskraft am Hof fehlte, und Maria sorgte sich, dass der Arm nie mehr heil werden würde. Doch die Kräuterfrau, zu der sie ihn mehrmals begleiten musste, mischte eine spezielle Mixtur, die den Knochen weich und verschiebbar machte. Mit festen Bandagen wurde sein Arm umwickelt, und es heilte – wie durch ein Wunder – aus.

»Das hat nichts Gutes zu bedeuten«, bemerkte Andreas.

»Was meinst du damit?« Maria schob die Taschen Richtung Hauswand. Onkel Alfons war wie ein Mysterium. Sie hatten ihn seit Ewigkeiten nicht mehr zu Gesicht bekommen. Den letzten Kontakt gab es, als ihr Vater seinen Bruder gebeten hatte, an höheren Stellen Auskünfte über Jakobs Verbleib einzuholen. Als Bittsteller aufzutreten, war Adam nicht leichtgefallen. Alfons hatte für sein Bemühen ein geschlachtetes Rind gefordert, bekam das gesamte Fleisch geschenkt. Und was brachte es? Nichts!

»Was weiß ich.« In Andreas’ Stimme lag etwas Aggressives, als hätte er doch eine Ahnung. »Sag Mutter, dass ich zu Markus gegangen bin.«

»Ich möchte nicht, dass du zu – zu diesem Schurken gehst!«

Andreas lachte bitter. »Das muss ich Markus sagen, dass du ihn für einen Schurken hältst.«

»Untersteh dich. Das war nicht so gemeint.« Maria krallte verärgert ihre Fingernägel in die Innenseite der Handfläche. Sie verdrängte den Schmerz, den sie dabei verspürte.

Andreas wurde ernst. »Markus ist mein bester Freund. Er ist der einzige Mensch, außer dir, dem ich zu einhundert Prozent vertraue. Also, warum willst du nicht, dass ich zu ihm gehe? Du hast vorhin schon so komisch reagiert. Und ich halte dich für schlau genug, dass du Vaters Worte nicht ohne Grund nachplapperst.«

Maria schoss das Blut in die Wangen. Sie wich dem prüfenden Blick des Bruders aus. Es stimmte, Vater hielt Markus für einen Halunken. Das fand sie nicht, denn er war fleißig, ging als Holzknecht einer kräftezehrenden sowie gefährlichen Tätigkeit nach. Freunde hatte er wenige. Die Jahre im Krieg hatten ihn vorsichtig und zu einem Einzelgänger gemacht. Bloß die Freundschaft zu Andreas überdauerte die beschwerliche Zeit. Manchmal traf sie Markus zufällig im Dorf. Auch da war meist der Bruder an ihrer Seite, sodass sie bisher kaum ein Wort mit Markus gewechselt hatte. Seine blauen Augen! Es ist, als würden sie tief in meine Seele hineinschauen.

»Also?« Andreas langte mit dem Zeigefinger unter ihr Kinn, drehte Marias Gesicht ihm zu, damit sie ihn anschauen musste.

Was sollte sie jetzt sagen? Dass Markus ihr gefiel? Sich ihr Herzschlag beschleunigte, wenn sie ihn sah? Sie am liebsten mitkommen würde, wenn Andreas den Freund besuchte, aber Angst vor der Schelte der Eltern hatte? Es war so ungerecht, dass sich Andreas alle Freiheiten nehmen durfte, während sie wie ein kleines Kind ihre Erlaubnis einholen musste, obwohl sie gleich alt waren! »Er – er«, stotterte sie, »er sieht mich immer so seltsam an. Das macht mich nervös.«

Maria wappnete sich davor, dass ihr Bruder sie auslachen würde. Nein, stattdessen legte er sanft einen Arm um ihre Schulter. »Markus findet dich sehr nett. Ich hab ihm gesagt, dass du trotz deiner achtzehn Jahre zu unschuldig für eine Liebelei bist.«

»Eine Liebelei?«, echote Maria. Sie errötete heftig. »Du machst dich über mich lustig!«

Andreas’ Augen blitzten amüsiert. »Ich muss los.« Er drückte seiner Schwester einen Schmatz auf die Wange, ließ sie stehen und lief die Wiese hinab.

Sein Freund Markus Forcher wohnte etwa zwanzig Minuten per Fußmarsch von ihnen entfernt in einer Hütte am Waldrand. Andreas hatte ihm tatkräftig beim Bau der Baracke geholfen, die er auf dem heimischen Grund errichtet und gemütlich eingerichtet hatte. Sie bestand aus einem einzelnen Raum, den ein Holzofen wärmte. Es gab einen Tisch mit zwei Stühlen, ein paar Schränke, und einen Diwan, der als Schlafstätte diente. Wenn Vater üble Laune hatte, flüchtete er gerne zu seinem Freund. Das Plätzchen dort fühlte sich für ihn wie ein Stückchen Heimat an!

Als Andreas aus dem Sichtfeld entschwunden war, schlenderte Maria zu dem Ahornbaum, und ließ sich auf der Holzbank nieder. Neben ihr schlängelte sich ein Bächlein vorbei, es plätscherte unablässig über die Steine. Ihr Bruder war heute übergeschnappt! Zuerst trug er die Tasche, dann redete er von einer Liebelei. Jetzt der Abschiedsschmatz! Markus würde mich weniger brüderlich küssen! Wie es sich wohl anfühlt, wenn sich zwei Menschen lieben und einander zugetan sind? Allein der Gedanke daran ließ Marias Herz heftig klopfen. Ob ich das einmal erleben darf?

»Ist Andreas zu seinem Freund gelaufen?«, ertönte Margarethes Stimme.

Maria zuckte zusammen, war froh, dass Mutter nicht in ihren Kopf hineinschauen konnte. »Ja.« Sie stand rasch auf, um den für sie bestimmten Teller entgegenzunehmen.

»Das wird Vater gar nicht gefallen!«

Maria betrachtete verblüfft das Essen. Auf dem Holzteller befand sich Geselchtes und Sauerkraut. An einem normalen Wochentag! Normalerweise gab es Kartoffeln in den verschiedensten Variationen: Als Suppe, Knödel, Schmarren, mit Salz und Butter, oder mal als Salat. »Heute gibt es Fleisch?«

Das Gesicht der Mutter wirkte versteinert. »Mahlzeit.« Margarethe wandte sich ohne weitere Erklärung ab. Die zweite Portion, die für Andreas gedacht war, nahm sie mit.

Maria verharrte mit dem Teller in der Hand, sah verwirrt der Mutter nach, die Richtung Bauernhaus eilte. Sie realisierte erst jetzt, dass Margarethe das Sonntagsdirndl trug, das sie früher mehr ausgefüllt hatte und ein paar Abnäher an den Seiten vertragen würde. Dick war sie nie gewesen. Es schien, dass jedes Kilogramm, was der Vater mehr ansetzte, bei ihr verloren ging. Das Haar der Mutter war wie üblich unter einem Stofftuch versteckt und tief im Nacken zusammengebunden. Nur seitlich ragten vereinzelte graue Strähnen hervor. Maria seufzte. Vieles ging ihr durch den Kopf: Andreas, Markus, der sonderbare Besuch des Onkels.

Gerade jetzt sehnte sie sich danach, mit jemanden über ihre Bedenken und Sorgen zu reden! Aber Andreas war bei seinem Freund, und zu Dorli kam sie nicht. Mit Glück konnte sie mit ihr am Sonntag nach dem Kirchgang kurz quatschen.

Maria ließ sich auf der Bank nieder, platzierte den Teller auf ihrem Schoß. Viel Hoffnung hatte sie nicht auf ein solches Gespräch, denn auch da fehlte oft die Zeit, um sich ausführlicher auszutauschen. Und seit sich Dorli mit dem Briten traf, schwärmte sie ohnehin für den, wie eine liebestolle Kuh, wo kein anderes Thema Platz fand. Marias Eltern würden ihr nie erlauben, mit einem Mann auszugehen. Schon gar nicht mit einem von einer anderen Nationalität! Wobei, Markus würden sie noch weniger gutheißen!

In den Baumkronen zwitscherte ein Vogel sein Lied. »Si-si-si-si-süh«, erklang es trotz der heutigen Schwüle. Maria suchte nach ihm, entdeckte ein goldgelbes Köpfchen.

Ein Goldammer, wie schön! Sie kannte seinen Singsang gut. Jetzt in den heißen Sommermonaten, wo die Brutzeit der anderen Vögel vorbei war, verstummten viele Lieder, da sie nicht ihre Jungen und das Revier verteidigen mussten. Beim Goldammer verhielt es sich andersrum, er schien da zur Höchstform aufzulaufen.

Maria stocherte lustlos in ihrem Essen umher, schob das Fleisch von einer Ecke in die nächste. Sie lebte an so einem herrlichen Ort und fühlte sich dennoch eingesperrt! Könnt ich bloß einen Tag von meinen Verpflichtungen befreit sein, einmal neue Kleider statt diesem zerlumpten Gewand tragen! Tun und lassen was ich möchte! – Oje, schon wieder füllen mich all die neidigen Gedanken aus! Sei dankbar, sonst musst du bei der Beichte Abbitte tun!

Ihr Blick verschwamm, als sie zwischen den dichten Ahornblättern zu dem tiefblauen Himmel hindurchschaute. Jakob! Bist du da oben? Wachst du über uns? Was würde ich jetzt für deine Ruhe und Besonnenheit geben. Oder dafür, dass du zur steirischen Harmonika greifen könntest, um ein Lied zu spielen, das mich aufheitert. So wie früher, zwischen all den Knechten und Mägden, als ich mich heimlich in die Stube geschlichen habe. Dort war es lustig, ihr habt gesungen und getanzt!

Mit seinem Weggang verschwanden die fröhlichen Melodien, die zuvor unablässig gesummt wurden. Bis heute waren sie nicht mehr wiedergekehrt. Maria schob den Teller von sich. Sehnsüchtig hatten sie während des Kriegs auf Lebenszeichen von Jakob gewartet! Auf Briefe oder Postkarten. Insgesamt kamen zehn Stück davon, dann war es still geworden. Über Wochen und Monate zog sich die nervenaufreibende Ungewissheit, ehe eine Nachricht kam, in der er offiziell als vermisst gemeldet wurde. Auch da hofften sie noch.

Gefallen sollst du erst in einer der letzten Schlachten sein. – Wieso hast du nicht mehr geschrieben? Konntest du nicht? Wo warst du all die Zeit? In Gefangenschaft? Verletzt? Irgendwo an der Front, wo du keine Möglichkeit hattest, Nachrichten zu verfassen, oder wurden diese nicht weitergeleitet? Es tut noch immer weh, ohne dich zu sein!

Ob das die Eltern gebrochen hatte und sie noch kühler werden ließ? Zumindest trug Mutter seit damals diesen verbitterten Zug um ihre Lippen. Maria starrte hinüber zu dem Fahrzeug des Onkels. Alfons hatte es besser getroffen als sie! Hatte Vater ihn hergebeten? Was wollte er von ihm? Geld? Einmal hatte Maria das Wort finanzielle Probleme aufgeschnappt. Ihr Blick wanderte hinauf zu dem desolaten Fensterladen über das verwitterte Schwarzgrau des Holzes zur kaputten Glasscheibe im Obergeschoss. Der Kontrast zwischen dem neuwertigen Auto und dem Haus war enorm. Sie schaute an sich hinab, trug eine vergilbte Bluse, dazu den langen Sommerrock, am Saum mehrfach geflickt.

Es öffnete sich die Haustür. Die Eltern und Onkel Alfons traten ins Freie. Steif standen sie sich gegenüber. Sogar aus dieser Entfernung war es Maria bewusst, dass es sich um kein allzu freundschaftliches Gespräch gehandelt hatte. Alfons marschierte zu seinem Wagen, startete ihn. Dunkler Rauch stieg aus dem Auspuff empor.

Indes näherte sich Maria ihrer Familie. Da entdeckte ihr Onkel sie, winkte sie herbei und schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, als ob er gar nicht bemerken würde, wie unpassend sie im Vergleich zu ihm gekleidet war.

»Fein, dass ich dich noch treffe«, meinte er einnehmend. »Ich habe für deinen Bruder und dich ein kleines Geschenk dagelassen.«

»Danke.« Maria war gefesselt von seinem selbstsicheren Auftreten. Der Steireranzug, den er trug, war aus edelstem Stoff. Am Beifahrersitz lag der dazu passende Hut. Eine Linie des akkurat gezogenen Rechtsscheitels im braunen Haar leuchtete hell entgegen. Da gab es keine Strähne, die sich in eine falsche Richtung verirrt hätte. Gegenüber dem Vater wirkte er um Jahrzehnte jünger, dabei war Alfons um drei Jahre älter! Am Handgelenk protzte zudem eine goldene Uhr.

»Ich hoffe«, fuhr ihr Onkel fort, »dass wir in Zukunft mehr Kontakt miteinander haben werden. Du bist ein hübsches Ding geworden. Wie doch die Zeit vergeht!«

Hübsch? Ich? Maria wich zurück. Sah er nicht, wie schäbig sie ausschaute? Sie hatte Schwielen an den Händen durch die harte Hofarbeit! Bestimmt wollte er bloß freundlich sein!

Alfons nickte ihr zur Verabschiedung zu, brauste davon. Die Autoreifen wirbelten eine Staubwolke auf, der Maria versuchte zu entkommen. Sie eilte an die Seite der Eltern. Als sie fragen wollte, was der Besuch auf sich hatte, kam Vater ihr zuvor.

»Das nächste Mal starrst du ihn nicht so unverschämt an!«

»Ich … ich … entschuldigen Sie bitte«, brachte Maria perplex hervor.

Als Kinder siezten sie den Vater. Adam bestand darauf, es war für ihn ein Zeichen des Respekts. Nur widerwillig duldete er, dass seine Frau Margarethe den Kindern eine vertrauliche Anrede gestattete. Breitbeinig stand Adam vor ihr, das Gesicht gerötet. An den Wangen entdeckte sie rot-violette Adern, die darauf hinwiesen, dass sein Herz angeschlagen war. Ein Gürtel hielt seine Hose zusammen, der obere Knopf ließ sich aufgrund der Leibesfülle nicht mehr schließen. Aufregung tat ihm gar nicht gut. Maria senkte den Blick, starrte auf ihre Fußspitzen, wollte keinesfalls den Vater reizen. Zudem stimmte es: Sie hatte Onkel Alfons angestarrt!

»Hol deinen Teller herüber!«, fauchte Mutter einen Atemzug später. »Oder denkst du, ich bin deine Dienstmagd!«

»Ja, Mutter.« Maria lief folgsam los. Ich hab nicht verlangt, bedient zu werden! Sie schnappte sich den Teller, kehrte um, bemerkte, dass Vater mit funkelnden Augen auf sie wartete.

Adams Hände waren zu Fäusten geballt. »Was sehe ich da? Du verschmähst das gute Essen!«

»Ich, ich …«, stotterte Maria. Da klatschte es auf ihrer Wange. Sie taumelte zurück, der Holzteller fiel auf die Erde, die Essensreste verteilten sich im Dreck. Ihre Hand glitt zur brennenden Wange. Sie starrte mit aufgerissenen tränenschimmernden Augen den Vater an, beachtete das Malheur am Boden nicht. Geschlagen hatte er sie seit Jahren nicht mehr!

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, drehte Adam ab. Margarethe folgte, so als ob es diesen Vorfall nicht gegeben hätte. Maria blieb geschockt stehen. Die Eltern wurden ihr zunehmend fremder, während sich Onkel Alfons benahm, als wäre er ein Freund! Was für eine Not musste dahinterstecken, dass sie die Nerven verloren?

Sie halten uns nach wie vor für Kinder! Egal, um welches Geschäft es sich handelte, für Vaters Laune war das keineswegs zuträglich! Maria bückte sich. Über das Geselchte hatten sich mittlerweile die Hofkatzen hergemacht. Mit einem dünnen Ast schob sie das übriggebliebene Sauerkraut auf den Teller zurück, um es später an die Schweine zu verfüttern. Mit dem säuerlichen Essensgeruch in der Nase stand sie auf, hielt kurz inne. Sie blickte hoch zu den Wolken, die dabei waren, sich aufzutürmen. Ob es an der schwülen Hitze lag, dass heute alle durchdrehten? Sie hoffte, ein Regen brächte bald Abkühlung!

Maria hastete in den Flur, sie wollte den Eltern möglichst nicht begegnen. Dabei wäre sie beinahe über zwei große Pakete gestolpert, die mit buntem Papier umwickelt waren. Sind das die Geschenke, von denen Onkel Alfons gesprochen hat? Sie blinzelte ungläubig. Allmählich gewöhnte sie sich an die Dunkelheit im Inneren des Hauses, die hellen Lichtpunkte in den Augen hatten ihr keinen Streich gespielt. Aus der Stube drangen dumpf die aufgebrachten Stimmen ihrer Eltern. Sie stritten, was seit dem letzten Dreivierteljahr häufig vorkam.

Maria las die Etiketten an den Geschenken, eines war für Andreas, das andere für sie. Was sich wohl in ihrem Paket drinnen befand? Zuvor wollte Maria allerdings rasch die Hühner und die Schweine versorgen, dann bräuchte sie nachher nicht mehr in den Stall.

 

 

Nach getaner Arbeit nahm Maria ihr Paket ächzend hoch. Es war schwer. Über die Treppe gelangte sie in den oberen Stock, wo ihr Zimmer linksseitig lag. Sie platzierte das Präsent auf ihrem Tisch, fuhr über das glatte Papier, das ein florales Muster aufwies. Achtsam löste sie es an den Klebestellen und versuchte, es möglichst nicht zu beschädigen. Danach faltete sie das Einpackpapier fein säuberlich zusammen, strich dabei die Knicke flach. Erst jetzt öffnete Maria die braune Schachtel, hob den Deckel an.

»Oh!« Es leuchtete ihr ein hellblaues Kleid entgegen. Entzückt nahm sie es hoch, schmiegte den weichen Stoff an ihre Wange. Doch es gab mehr zu entdecken. Maria beförderte neue Schuhe mit Absatz hervor. Am Berg waren die nicht zu gebrauchen, aber ihr Rock würde beim Tanz herrlich damit schwingen! Falls die Eltern sie dorthin gehen ließen! Dazu gab es einen gelben Seidenschal, den sie gleich um den Hals schlang. Ein filigranes Nachthemd ließ ihr die Röte ins Gesicht schießen!

Markus könnte das gefallen! Sie rang nach Atem. Du verrückte Kuh! Der ist an dir Küken sicher nicht interessiert!

Zuunterst lag ein schwarzes Köfferchen. Neugierig drückte sie auf die Schließe, die sogleich aufsprang. Vor ihr breitete sich eine Sammlung aus verschiedenfarbigen Lidschatten, Lippenstifte sowie Nagellacke aus. Ich träum bestimmt! Maria zwickte sich sicherheitshalber in den Arm. Der Schmerz war echt! Die wollte sie später ausprobieren!

Maria schälte sich aus den alten Klamotten, zog das blaue Kleid über, und schlüpfte in die hochhackigen Schuhe, die sich eng an ihre Füße schmiegten. Sie ging kichernd ein paar wackelige Schritte, kam sich wie eine Prinzessin aus einem Märchen vor. Sachte strichen ihre Finger dem seidigen Stoff entlang. Sie drehte sich vor dem Spiegel im Zimmer, der einige blinde Stellen aufwies, ihr dennoch offenbarte, wie hübsch sie im Gewand aussah. An der Taille saß das Kleid etwas zu locker, aber mit einem Gürtel, musste sie es nicht einmal abnähen. Es endete eine Handbreit unter ihren Knien, gewährte einen Blick auf ihre schlanken Fesseln.

Onkel Alfons hatte auf Anhieb die passende Größe getroffen, wie konnte das sein? Maria fand keine Antwort darauf. Sie schlüpfte aus dem herrlichen Kleid, drapierte es über die Stuhllehne, damit es keine Knitterfalten bekam. Stattdessen zog sie das Nachthemd an. Sie fühlte die sanfte Spitze auf der nackten Haut, als ob sie jemand liebkosen würde. Maria glitt unter die Leinendecke ins Bett. Lächelnd schlief sie ein und träumte davon, wie Markus mit ihr über das Parkett wirbelte – sie in ihren hochhackigen Schuhen und dem seeblauen Kleid!

 

 

 

EIN DONNERWETTER

Aufgebrachte Stimmen rissen Maria aus ihrem Traum. Es dauerte eine Weile, bis sie realisierte, dass sie sich in ihrem Zimmer und nicht tanzend im Dorfsaal befand. Sie setzte sich auf, drehte das Licht der Petroleumlampe höher. Regen prasselte gegen die Fensterscheibe. Wie passend, zu ihrer betrübten Stimmung. Sie schielte zu dem Gefäß am Holzboden, in den es im schneller werdenden Rhythmus hineintropfte. Bevor das Wasser überquoll und durch die Holzritzen des Bodens hinuntersickern konnte, musste sie den Topf austauschen.

»Schon wieder Streit!«, murmelte Maria. Auch wenn sie die genauen Wortlaute nicht verstand, erkannte sie ihre Eltern und Andreas. Seit dem Auftauchen von Onkel Alfons schien die Atmosphäre regelrecht vergiftet. Sie fröstelte, dachte an die ungerechte Behandlung des Vaters. Sie zuckte zusammen, als einen Stock tiefer eine Tür knallte.

Maria sprang Bruchteile später aus dem Bett, zog einen Rock und einen Pullover über das Nachthemd. Barfüßig trat sie an das Türblatt, lauschte. Sie hörte jemanden nach oben kommen. Andreas! Sie erkannte ihn an seinen vertrauten polternden Schritten.

»Verdammte Arschlöcher!«, fluchte er im Stiegenhaus und kurze Zeit später fiel dessen Zimmertür krachend ins Schloss.

Maria wich Richtung Fenster ab. Ein gleißender Blitz zuckte am finsteren Horizont entlang, gefolgt von einem Donner, der sie aufhorchen ließ. Schimpft sogar der Herrgott mit uns? Der gesamte Tag war erfüllt von schwülwarmer Luft gewesen, ein Vorbote dieses Gewitters. So spät in der Nacht, fand sie das Tosen und Rauschen besonders unheimlich. Sie klammerte sich an den Vorhang.

Der folgende Blitz erhellte den Hof, zeigte dicke Tropfen, die auf den Knecht Georg herab prasselten. Klatschnass humpelte er über den Platz zwischen Haus und dem Stallgebäude, um zu seiner Unterkunft zu gelangen. Bestimmt kam er geradewegs vom Dorfwirt, hatte dort reichlich Alkohol konsumiert! Georg erzählte ihnen stets, er könnte bloß damit die körperlichen Schmerzen lindern! Dabei tat ihm das Saufen gar nicht gut! Litt zu seinem Handicap am schmerzhaften Gliederreißen, was jedes Glas Hochprozentiges eher verschlimmerte als verbesserte. Aber da hatte er kein Einsehen!

Maria bemerkte, wie Georg gegen die Steinmauer des Stalls torkelte. Er schüttelte sich, schlurfte mit schweren Schritten weiter, bis sie ihn vom Fenster aus nicht mehr sehen konnte.

Ob Georg eher den inneren Schmerz meinte? Den Tod seiner Schwester Anna hatte er nie verwunden. So schrecklich und banal zugleich! Ein eingetretener Dorn in der Ferse war ihr zum Verhängnis geworden. Sie hatte die Gefahr unterschätzt, schwieg über ihre Verletzung, zeigte ihre Wunde erst, als es bereits zu spät war. Die Behandlung schlug nicht mehr an. Ein Wundstarrkrampf raffte sie dahin. Maria erinnerte sich an Annas verkrampften überstreckten Körper. Um die Magd besser umsorgen zu können, wurde sie bei ihnen in der Stube untergebracht. Jeder Laut hatte Qualen in ihr verursacht. Dazu das verzerrte Gesicht, wie zu einem grausigen dämonischen Lächeln, das der Krankheit geschuldet war. Ihre Augen brachten am Schluss nur mehr ein Blinzeln zustande. Anna litt furchtbar. Bis Georg heimlich in die Stube geschlichen war.

Maria zitterte, spürte die ausgekühlten Zehen auf den Holzdielen. »Dabei wollte ich bloß auf die Toilette gehen. Das Murmeln aus der Stube ließ mich innehalten und durch das Schlüsselloch spähen. Da sah ich, wie Georg schluchzend nach dem Kissen griff, um es in Annas Gesicht zu drücken.« Er hatte es nicht aus Wut oder Zorn getan, sondern erlöste sie vor der unmenschlichen Qual. Nie würde sie diesen Anblick vergessen! Wieso vermochten die Ärzte nicht, Anna bei der Krankheit zu helfen?

Ein Blitz fuhr in der Nähe ein, fast zeitgleich donnerte es. Die Gewitterfront lag über ihnen. In Marias Ohren rauschten Georgs damaligen verzweifelten Klagen. Seitdem betäubte er sich mit Alkohol, bis er nicht mehr der deutschen Sprache mächtig war. Es verwunderte sie, dass er dennoch Nacht für Nacht nach Hause fand, in die Baracke neben dem Stall, in der sein Schlafplatz lag.

Ob die Eltern von der Sterbehilfe wussten? Von ihr hatte es nie jemand erfahren! Ich hätte an seiner Stelle vermutlich ebenso gehandelt!, dachte Maria nicht zum ersten Mal. Für Anna gab es keine Rettung. Trotzdem war mit diesem Tag etwas in Georg zerbrochen, was nie mehr heilen würde. Andreas hatte recht. Es war eine schreckliche Zeit, in der sie seit Jahren lebten!

Plötzlich fasste jemand an ihre Schulter. Marias Herz schien einen Schlag auszusetzen. Ein leiser Schrei entwich aus ihrer Kehle. Ehe sie sich umdrehte, vernahm sie Andreas’ amüsiertes Lachen im Ohr. Sie hatte ihn nicht kommen hören.

»Keine Sorge, ich bin’s. Ich weiß doch, welche Angst du vor Gewittern hast.«

Maria atmete erleichtert auf. »Ich dachte schon, es wäre Vater.«

»Sie sind so seltsam, nicht erst seit heute.« Andreas rieb sich nachdenklich die rechte Wange.

»Hat er dich auch geschlagen?«

»Ja.« Er schluckte. »Dich ebenso?«

Maria nickte. Sie nahm auf ihrem Bett Platz, steckte die klammen Füße unter die Bettdecke. Erneut fuhr ein Blitz über den Himmel, erhellte für kurze Zeit die Nacht und das Schlafgemach, gefolgt mit einem tiefen Donnern, der in ihrer Brust nachhallte.

Andreas legte fürsorglich einen Arm um die zitternde Schwester. »Ich weiß zwar, dass sie von Markus nicht begeistert sind. Aber so übertrieben haben sie noch nie. Und ich verstehe es nicht. Vor dem Krieg war das nachbarschaftliche Verhältnis in Ordnung. Was ist passiert?«

»Hast du jemals mit Markus darüber gesprochen, was der Grund sein könnte?«

»Er weiß es nicht. Und er legt ohnehin keinen Wert auf andere Meinungen. Der Krieg hat ihn etwas eigenbrötlerisch gemacht. Dennoch bin ich froh, ihn zu meinem Freund zu haben. Manchmal ist es, als wäre er mein großer Bruder. Jakob war auch immer ruhig und besonnen, findest du nicht?«

»Ich kann das nicht beurteilen, dafür kenne ich Markus nicht gut genug!« Maria rückte ein Stück ab.

»Was ist los mit dir? Hab ich etwas Falsches gesagt?«

Schuldbewusst nagte Maria an ihrer Unterlippe, sie vermisste die geschwisterliche Geborgenheit. »Verzeih, aus mir spricht meine dumme Eifersucht. Ich fühl mich ausgeschlossen, und bin neidisch auf deine Freiheiten, die mir als Mädchen verwehrt bleiben. Vielleicht hab ich auch ein Stück weit Sorge, dass ich dir weniger wichtig bin. Obwohl, das stimmt nicht. Jetzt bist du hier, wegen mir und meiner absurden Ängste.«

Andreas schwieg ein paar Momente. »So schlimm? Ja sicher, was frage ich so blöd.« Sein Blick wirkte sanft. »Was ist mit Dorli? Gehst du nicht manchmal zu ihr?«

»Die hat nur mehr Augen für ihren Briten, James heißt er«, presste Maria hervor. »Seit Vater davon weiß, hat er mir verboten, sie zu besuchen. Aber es wäre ganz gleich, auch wenn er es erlauben würde, ich will in eine junge Liebe nicht hineinplatzen.«

»Falls du möchtest, nehme ich dich das nächste Mal zu Markus mit. Er hätte nichts dagegen. Er mag dich.«

Maria schüttelte abwehrend den Kopf. »Er ist dein Freund. Ich wäre nur das fünfte Rad am Wagen. Das will ich nicht. Besser ist es, ich schnappe mir Pfarrer Ludwigs Bücher, um sie zu studieren, dann komme ich nicht auf so dumme Gedanken.«

»Lehn nicht gleich ab. Glaub mir, Markus kann sehr nett sein. Aber was mach ich da?« Andreas grinste. »So wie ich ihn anpreise, könnte man glatt meinen, ich möchte dich mit ihm verbandeln.«

Maria stob mit klopfendem Herzen auf.

»Lass dir gesagt sein, Schwesterlein. Von allen Männern, die ich im Umkreis kenne, würde ich ihn am liebsten an deiner Seite wissen. Erzähl das bloß niemals Vater und Mutter, sonst bin ich enterbt.«

»Für eine Verbindung bedarf es eines Einverständnisses auf beiden Seiten«, meinte sie ausweichend. »Manchmal frage ich mich, ob unsere Eltern aus Liebe geheiratet haben.«

»Geheiratet wird wegen der gegenseitigen Absicherung«, warf Andreas unromantisch ein. »Mutter war eine Magd, brachte ihre Schönheit mit ein, wobei auch die nur mehr in Nuancen vorhanden ist. Ich kann mir gar nicht vorstellen, dass sie je miteinander geturtelt haben. Du?«

»Nein. Du hast recht, Mutter sieht mittlerweile alt und abgearbeitet aus.« Maria schaute durch das Fenster nach draußen. Das Wetter war ihr nicht geheuer. »Weißt du, weshalb Onkel Alfons hier war?«

»Ach, der.« Andreas versteifte sich.

»Er hat uns Geschenke mitgebracht«, plauderte sie eifrig weiter. »Hast du deines aufgemacht?«

»In hundert Jahren nicht!«

»Sei nicht so. Ich finde die Sachen schön. Noch nie hab ich einen derart weichen Stoff in meinen Händen gehalten. Fühl mal, das blaue Kleid hängt dort über dem Stuhl.«

»Er will uns damit kaufen.« Andreas wirkte ernst, trat an ihre Seite. »Es reicht schon, wenn sich die Eltern von ihm kaufen lassen.«

Ein Blitz zuckte durch die Nacht, ließ Maria erschrocken hinausspähen. »Schau mal! Der Bach führt kaum Wasser, obwohl es aus allen Kübeln schüttet! Eigenartig, was hat das zu bedeuten?«

»Du hast recht. Verdammt! Wir müssen sofort raus und nachsehen, was da los ist!«

»Weshalb denn?« Maria blickte ihn verständnislos an. War ihr Bruder verrückt geworden, bei dem Wetter das sichere Haus zu verlassen? Nicht einmal einen Hund würde man hinausjagen! Sie schielte zu dem Gefäß auf dem Boden. Viel Platz war darin nicht mehr übrig. Bestimmt waren die Töpfe in den anderen Räumen inzwischen ebenso randvoll. Hastig zog sie die Schuhe an, wollte zu dem Gefäß greifen.

»Lass das! Dafür ist jetzt keine Zeit!«

Maria gab bei Andreas’ Entschlossenheit ihren Widerstand auf. Ein Donner ließ die Glasscheiben vibrieren. Das Unwetter hing nach wie vor direkt über ihnen. Der Bruder hämmerte gegen die Tür des Elternschlafzimmers. »Ihr müsst raus! Das Wasser hat sich irgendwo gestaut!«

»Dafür wird Vater dich erschlagen! Es ist längst nach Mitternacht, du weißt, wie heilig ihm sein Schlaf ist!« Entsetzt drückte sich Maria an die Wand.

»Du missratene Brut, stör mich nicht!«, grollte Adam aus dem Inneren.

»Beruhig dich, dein Herz!«, vernahmen sie Margarethes beschwichtigende Worte.

»Verdammter Grantler.« Andreas wich ab.

»Mutter, bitte schaut doch selbst!«, rief Maria mit besorgter Stimme.

»Los Maria, mach schon!« Der Bruder sah vom Treppenabsatz zu ihr herauf, hielt eine Jacke für sie bereit.

Sie rannte die Stufen hinunter, hatte kaum genug Zeit, um in die Ärmel hineinzuschlüpfen, da zerrte Andreas sie weiter vor die Tür. Die Tropfen prasselten hart herab, sie wurden eingehüllt von einem Tosen und Knarren. Die Luft wirkte nebelig, es war unheimlich.

»Oben muss irgendetwas den Bach verlegt haben!«, schrie Andreas aus Leibeskräften, um den Lärm zu übertönen.

»Ist das schlimm?«

Der Bruder nickte ernst. »Unterschätze nicht die Kraft eines Wassers, das habe ich in der Mühle beim Sägewerk mehrfach erlebt.« Einmal, da hatte er noch gar nicht lange dort gearbeitet, rissen verkeilte Baumstämme tiefer Löcher in die Gebäude. Sie waren wie Geschosse gewesen, die im näheren Umfeld alles zerstörten. Die Aufräumarbeiten und Instandsetzungen hatten über vier Monate gedauert. Zum Glück wurde damals niemand von ihnen verletzt.

Andreas umklammerte die Hand der Schwester. Gemeinsam liefen sie los. Nach wenigen Schritten waren beide bis auf die Haut durchnässt, die Jacken schafften es nicht, den Regenflutmassen standzuhalten. Sie kletterten nacheinander einen Hang hinauf. Maria rutschte ab, die Erde hatte sich in Schlamm verwandelt. Sie krallte sich mit ihren Fingernägeln tief in den Boden hinein, fasste nach einem Wurzelgeflecht, hangelte sich daran empor. Andreas streckte ihr die Hand entgegen, zog sie mit einem Ruck auf die Anhöhe.

Maria hauchte ein leises Dankeschön. Sie war völlig außer Atem. Indes deutete ihr Bruder Richtung Berg. Sie mussten weiter hinauf, wollten dem fehlenden Wasser im Bach auf den Grund gehen. Ihr Herz klopfte wild vor Anstrengung und Panik. Sie zuckte bei den Blitzen aufs Neue zusammen. Die Luft flirrte, wirkte wie elektrisch aufgeladen, während der Regen nicht nachließ. Sie folgte Andreas, vertraute ihm. Zudem wollte sie in der Finsternis keinesfalls zurückbleiben!

»Da vorne sind Bäume verkeilt!«, brüllte Andreas.

Es knackste furchteinflößend. Unwillkürlich suchte Maria Schutz bei ihrem Bruder, verbarg sich hinter dem breiten Rücken, spähte zaghaft nach vorne zur Barriere. Sie schluckte, als sich ein Stamm drehte. Die Blockierung schien nachzugeben. Dahinter hatte sich ein See gebildet. Um zu erkennen, wie groß er war, dafür reichten die kurzaufhellenden Blitze nicht aus. Ein weiteres Holz löste sich. Der Wall begann gefährlich zu schwanken. »Oh mein Gott!« Maria vergrub die Fingernägel im Oberarm des Bruders.

»Wir müssen weiter rauf, sonst erwischt es uns!« Er packte sie bei den Schultern, schob sie den Hang hinauf.

Das nächste Ächzen folgte, die Barriere brach, entließ Tausende Liter Wasser.

Maria stolperte. Andreas zog sie hoch, schleifte sie mit.

Sie strauchelte und sackte auf den Boden. Ein stechender Schmerz schoss von ihrem Fuß aus durch den Körper. »Ich kann nicht mehr!«

Ihr Bruder hob sie auf, brachte sie die letzten Meter in Sicherheit, während das Wasser unter ihnen hinwegdonnerte und einen breiten Graben der Verwüstung zog. Bäume wurden wie Zahnstocher mitgerissen und durch die Gegend geschleudert.

Marias Blick fiel auf das elterliche Haus, das durch einen grellen Blitz erhellt wurde. »Mutter! Vater!« Im flackernden Schein sah sie die Wassermassen auf das Haus zustürzen. Ein Baum durchdrang die Bretterwand. Der Dachstuhl sackte in sich zusammen. »Wir müssen ihnen helfen!« Sie sprang auf, doch der Schmerz in ihrem Knöchel ließ sie direkt in Andreas’ Arme fallen.

»Bleib, wir können nichts tun!« Verzweifelt umklammerte er sie. »Wir müssen warten, bis es vorbei ist. Oder willst du sterben?«

Maria schluchzte. Ihre Tränen vermischten sich mit dem Regen. Das Prasseln wurde weniger, während sich der Wind verstärkte, die Gewitterwolken vorantrieb. Sie bibberte vor Angst, Kälte und Betroffenheit. Das lange Haar, das sich aus ihrem Zopf gelöst hatte, klebte an den Wangen. War das ein Rufen? Ihr Kopf ruckte hoch, verwirrt blickte sie sich um. Das Wasser gurgelte. Nein, der Sturm hatte ihr einen Streich gespielt! Da vermochten keine anderen Geräusche durchzudringen! Sie wimmerte. »Wie lange noch?«

Andreas strich besänftigend über ihren Rücken, während sich die Zeit des Wartens wie eine Ewigkeit dehnte.

 

 

»Jetzt können wir nachsehen.« Andreas stupste seine Schwester an. Das dunkle Grau war deutlich heller geworden, die Regenfront mit den Wolken weitergezogen, sodass sich der Mond groß und rund präsentierte. »Komm, ich helfe dir.« Er stützte Maria.

Sie biss die Zähne zusammen, und versuchte, den Schmerz auszublenden. Vor ihnen lagen Furchen, tief in die Erde gegraben, so wie es der größte Pflug nicht zu tun vermochte. Sie kamen bloß langsam voran. Vom Pfad, den sie zuvor gegangen waren, gab es nur mehr ein kleines Teilstück. Sie kämpften sich gemeinsam Richtung Elternhaus vor. Andreas half seiner Schwester, um über Wurzelstöcke, abgerissene Baumstämme und Geäst zu klettern.

»Mutter? Vater?«, rief Maria von weitem. Niemand antwortete. Die nächtliche Schwärze ging in ein Morgengrauen über, gab nach und nach das Ausmaß der Zerstörung preis. Der Dachstuhl befand sich nicht mehr auf seinem Platz. Die Wände des Bauernhauses erinnerten Maria an eine Pappkartonschachtel, in sich verschoben und zusammengepresst, so, als ob jemand darauf getreten wäre. Die Holzruine stand dicht an der Seite des Stalls, der unversehrt wirkte. Wenn sie es nicht besser wüsste, hätte man denken können, die beiden Gebäude wären von vornherein zusammengebaut gewesen.

Dort, wo sich vormals die Küche befunden hatte, klaffte ein riesiges Loch. Am Essplatz lagerte ein großer Stein, der Maria überragte. In diesem Raum gab es kein Weiterkommen. Matsch und Schlamm standen knöchelhoch. Über ihnen löste sich ein Brett, Maria schrie erschrocken auf. Es hatte sie zum Glück verfehlt.

»Wir müssen einen anderen Zugang suchen!« Andreas zog sie hinaus. Ein paar aufgebrachte Hühner liefen gackernd umher. Aus dem Stall vernahmen sie die Unruhe der Tiere. Es erklang das verängstigte Muhen der Kühe, Schweine grunzten, und die Hufschläge der Pferde donnerten gegen die Mauern und Holzwände.

Andreas entdeckte eine Öffnung, verschwand im zerstörten Haus.

»Sei vorsichtig!«, rief Maria hinterher. Sie humpelte suchend weiter. Vorne war kein Durchkommen, sie musste es an der Hinterseite probieren, wollte die aufgeschreckten Tiere herausholen! Sie schwankte gefährlich, die Füße versanken im Schlamm. Tapfer kämpfte sie sich voran. Jeder Schritt war, als ob sich eine Nadel in ihre Ferse bohren würde, doch sie stoppte nicht. Maria bog um die Ecke.

»Mutter! Vater!« Sie horchte. War da eine männliche Stimme? »Georg, bist du’s?!«

Statt einer Entgegnung flog die kleine Stalltür auf, die zum Mistplatz führte. Panisch stürmten die Tiere heraus. Maria strauchelte, fiel in den Matsch und schrie entsetzt auf.

Wenige Augenblicke später war Andreas an ihrer Seite. »Was ist los?«

Unweit entfernt ragte eine Hand aus dem Dreck heraus. Ein goldener Ehering prangte am Finger! Das musste Mutter sein! Vater trug keinen Ring!

Andreas löste sich als Erster aus der Erstarrung, griff nach der Hand, wollte sie herausziehen. »Ich schaff’s nicht!« Wie von einem Sog wurde der menschliche Leib zurückgehalten. Er kniete nieder, versuchte sie, mit den Händen auszugraben.

Maria rappelte sich auf, bemerkte Georg, der zu einem Baumstamm hinkte.

»Oh Gott, da liegt der Vater! Begraben unter dem Baum!«, stieß sie aus.

Georgs bedauerndes Kopfschütteln zeigte, dass es keine Hilfe mehr gab. Der Knecht eilte weiter zu Andreas, um ihn zu unterstützen!

»Hol Wasser!«, wies der Bruder Maria an.

Wasser? Natürlich – um Mutter vom Dreck zu befreien! Ihr Blick fiel auf die Holzbaracke des Knechts, die das Unwetter unbeschadet überstanden hatte, was sie den dicken Mauern des Stallgebäudes verdankte. So rasch es ihr schmerzendes Bein zuließ, humpelte sie darauf zu. Maria langte nach dem Wasserkrug. Sie schleppte ihn zurück, während der Schlamm den schlaffen Körper mit einem schmatzenden Geräusch freigab.

Maria begann hektisch mit dem Wasser das Gesicht der Mutter zu waschen, fingerte Dreck aus dem halboffenen Mund, spülte ihn frei.

»Sie ist tot«, bemerkte Andreas.

»Nein! Komm, atme! Bitte!« Maria rüttelte die Mutter.

Weit aufgerissene Augen schauten starr durch sie hindurch. Zu spät! Schluchzend saß Maria im Dreck, bis sie den leeren Blick nicht länger ertrug und mit zittrigen Händen Mutters Augenlider schloss. Inzwischen hatte Andreas den Hengst eingefangen. Schweigend spannten er und Georg das Pferd ein, um Vater zu befreien und den Baumstamm wegzuziehen. Gemeinsam schafften sie die toten Eltern zu dem Ahornbaum. Scheu drückte Maria auch dem Vater die Lider zu. Zeitlebens hatte er keine freundlichen Gesten für sie übriggehabt, sodass sie selbst im Tod kaum wagte, ihn anzufassen. Schluchzend breitete sie eine Decke über die beiden aus. Sie sind tot! Tot!!!

Andreas’ Hand lastete schwer auf ihrer Schulter. So nichtig kamen ihr im Moment der absurde Streit und die Meinungsverschiedenheiten vor. Wie eine Ironie des Schicksals floss der Bach einträchtig plätschernd dahin. Die Sonne blitzte hinter der Bergkuppe hervor. Doch das plattgedrückte Gras zu den Seiten und das Durcheinander zeugten von der Naturgewalt, die vor kurzem getobt hatte.

»Mutter – Vater – ruht in Frieden.«